Irgendwann stand es einfach da, auf einem grünen Feld, weit hinter den Straßen und den Bürgersteigen, weit weg von den Dächern und gepflegten Gärten. Niemand wusste, woher es gekommen war und wer sein Auftauchen veranlasst hatte. Man war überzeugt, dass ein solches Unterfangen keinesfalls hätte unbemerkt bleiben können, und doch fiel das Raumschiff erst auf, als es auf jener Wiese stand. Ein Junge, der mit seinem Luftgewehr Eichhörnchen jagte, hatte das imposante Objekt entdeckt, kurz an Sehvermögen und Zurechnungsfähigkeit gezweifelt und schließlich Freunde und Familie informiert. Die Kunde verbreitete sich rasch, und nur wenige Stunden später war bereits die halbe Stadt zur Wiese gepilgert, auf welcher das Raumschiff stumm und rätselhaft in den Himmel ragte.
Zuerst war man verblüfft. Menschen sehen manchmal dämlich aus, wenn sie verblüfft sind, und weil man nicht dämlich aussehen wollte, hörte man schnell auf, verblüfft zu sein. Man begann, das Raumschiff zu belächeln und das fehlende Hintergrundwissen mit Witzen zu kaschieren, doch das Amüsement war nur ein Verwandter des Trojanischen Pferdes und beheimatete in der Tiefe seines Bauches ein schwelendes Unbehagen. Nach wie vor verfügte niemand über nachweislichen Informationen über das Raumschiff, von nachvollziehbaren Erklärungen ganz zu schweigen, und weil dies ein unerträglicher Zustand war, begann man, sich in Spekulationen und Theorien zu retten, um nicht vollkommen verloren zu sein.
Die meisten selbstberufenen Experten waren überzeugt, dass es sich um ein Space Shuttle der NASA handelte, obwohl das Raumfahrtprogramm bereits eingestellt und die verbliebenen Raumfähren verschiedenen amerikanischen Museen und Einrichtungen zur Verfügung gestellt worden waren. Manche behaupteten, eines der Raumschiffe sei gestohlen worden, andere glaubten an einen Nachbau, und natürlich gab es auch jene, die überzeugt waren, das Columbia-Unglück im Jahr 2003 sei nur vorgetäuscht gewesen und die scheinbar zerstörte Raumfähre für andere Zwecke verwendet worden. Einigkeit bestand lediglich darin, dass alles sehr seltsam war. Und dass man sich dem Raumschiff auf der Wiese zumindest vorläufig nicht nähern sollte.
Die arglose Neugier, das Philosophieren und Diskutieren, die laienhaften und wissenschaftlichen Exkurse, sie hielten einige Tage an. Die gesellschaftliche Unschuld hat offenbar eine ähnliche Haltbarkeitsdauer wie Fruchtjoghurt. Doch irgendwann begann sich ein merkwürdiger Geruch auszubreiten. Wie ein unsichtbarer Schleier legte er sich über die Wiese, schlich durch die Wälder bis hin zu den Straßen und den Bürgersteigen, zu den Dächern und gepflegten Gärten. Immer häufiger und heftiger rümpfte man die Nase, schüttelte den dazugehörigen Kopf und spuckte geräuschvoll aus. Man fragte sich, wie lange das noch so weitergehen würde. Und kam zur Überzeugung, dass es so nicht weitergehen konnte.
Wenn man keine Erklärungen findet, braucht man wenigstens einen Schuldigen. Jemand musste das Raumschiff auf die Wiese gestellt und alles eingefädelt haben. Jemand musste die Antworten kennen. Jemand musste verantwortlich sein, für das Unbehagen und den Gestank.
Es gab keinen triftigen Grund, dass der Verdacht auf T. fiel, man hielt lediglich fest, dass er schon immer seltsam gewesen sei und dass früher, als er noch nicht in der Stadt wohnte, niemals irgendwelche Raumschiffe auf irgendwelchen Wiesen aufgetaucht seien. Zwar fehlte es an Beweisen, um T. schuldig zu sprechen, doch man tat es trotzdem und stellte keine Fragen, denn die Zeit der Fragen, sie war endgültig vorbei.
Freiwillige waren schnell gefunden, die notwendigen Hilfsmittel rasch organisiert, und an einem sonnigen und warmen Samstagnachmittag versammelte sich die gesamte Stadtbevölkerung auf der Wiese. Für die Kinder gab es Zuckerwatte, für die Erwachsenen Bier und Wein, das lokale Orchester spielte einige stolze Märsche, sehr wichtige Personen sagten sehr wichtige Worte, und schließlich, nach einem hübschen Trommelwirbel, wurden der T. und das Raumschiff in die Luft gesprengt.
Die Idee, auf der Wiese ein Denkmal zu errichten, wurde aus finanziellen Überlegungen verworfen, und nachdem man noch einige Tage lang über das Ereignis diskutiert hatte, verschwand das Raumschiff allmählich aus den Köpfen der Menschen, der T. war schon längst nicht mehr da. Nur der Gestank blieb hartnäckig, schien tief in den Straßen und den Bürgersteigen zu stecken, in den Dächern und gepflegten Gärten. Man konnte es sich nicht erklären. Aber man musste wohl damit leben.

Warum brauchen wir denn immer einen Schuldigen? Und wenn wir schon einen brauchen: Warum wurde die schöne Tradition des Sündenbocks im ursprünglichen Sinne aufgegeben? Da musste wenigstens nur ein Tier dran glauben…
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Die Fragen, die sind sehr gut, doch die Antworten, die hab ich nicht (und „so sind wir halt“ ist keine). Vielen Dank dir fürs Lesen und deine Worte und Fragezeichen…
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Herr Disputnik, haben Sie das Raumschiff in Provinzanien gesehen? Auf der Schützenplatzwiese, die nur einmal im Jahr bepauktschalmeyert wird? Dann kann ich Ihnen den Geruch benamsen. Er nennt sich Spießermief.
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Wäre denn der Geruch nicht auch zu vermelden gewesen, wenn das Flugobjekt in einem Grossstadtpark aufgetaucht wäre? Unterschiede dürften zwar erkennbar sein, aber Angst hat man doch auch abseits der Provinz, oder? Jedenfalls lieben Dank fürs Lesen und die Worte…
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Natürlich wabert auch da der Muff. Meiner Erfahrung nach wären aber in einer Großstadt mehr beherztere Menschen beheimatet, die wenigstens den armen T. gerettet hätten.
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Zumindest wären mehr Menschen beheimatet in der grossen Stadt. Ob sie jedoch beherzter wären, wage ich nicht zu beurteilen. Aber ja, für den T. wäre die Geschichte in der Stadt wohl anders gelaufen.
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Ich hoffe, daß allein durch das buntere Miteinander in der Stadt die Herzen offener und die Phobien weniger ausgeprägt. Mag sein, ein Wunschdenken, aber was bleibt denn angesichts solcher Geschichten wie dieser vom armen T.?
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Ich hoffe auf offene Herzen ganz generell, unabhängig von Koordinaten. Man findet wohl solche und solche, hier und dort…
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ach wie schade, so ein hochinteressantes Objekt steht urplötzlich mitten auf der grünen Wiese und ich hoffte nun, das Dorf würde für eine Zeitlang in den Schlagzeilen der verschiedenen Medien auftauchen aber nichts da, ein armer Unschuldiger muß mal wieder dran glauben, weil einer gefälligst der Schuldige zu sein hat…
Wie kommt das Raumschiff auf die Wiese? Eine klasse Frage, meine ich und ich kann es mir sehr gut als Aufsatzthema für eine aufgeweckte Klasse vorstellen, oder als Superpreisfrage eines Wettbewerbes mit tollen Preisen
lächel*
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Oh ja, ein solches Aufsatzthema hätte mich auch gefreut, doch es kam nie, früher, und die Aufgewecktheit der Klassen und vor allem ihrer Lehrer hielt sich jeweils auch in engen Grenzen, was Aufsätze betraf…
Vielen Dank dir fürs Lesen und für deine Gedanken, liebe Bruni…
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