Die Luft ist staubig, so durchdringend staubig, dass man sich kaum vorstellen kann, wie das Bild ohne Staub aussähe. Der Boden wirkt sandig, so allgegenwärtig sandig, dass man sich in einer Wüste wähnt, und sehr viel, was man sieht, ist Boden. Das war nicht immer so, doch die Häuser, sie wurden eben diesem Boden gleichgemacht, und die Gleichmacher, sie waren gründlich, nur wenige Mauern blieben unversehrt. Darunter sind kahle Wände und seltsamerweise auch zwei Türme, die in einiger Entfernung zueinander auf einem Platz stehen und beinahe unbeschädigt in das fahle Grau und Blau ragen, das durch die staubige Luft schimmert. Es sind keine Kirchen, keine Wolkenkratzer. Es sind keine Wahrzeichen, aber wohl durchaus Zeichen, derweil von der Wahrheit und Wahrhaftigkeit niemand spricht. Überhaupt liegt ein Schweigen über dem sandigen Boden. Eine Kapitulation vor dem Unaussprechlichen, womöglich. Man arbeitet stumm und stoisch, eine stumpfe Mechanik liegt in den Bewegungen, man räumt auf, rissige Finger scharren und schieben, ohne dass ein Ziel erkennbar wäre. Die Augen sind befremdliche farblose Löcher in sandbedeckter Haut, Leerstellen in immergleichen Gesichtern, niemand scheint wirklich sehen zu wollen, und doch kann man den Blick nicht abwenden, die Lider schließen nicht mehr richtig, und alles trocknet aus. Niemandem fällt auf, wie eine Frau ein Seil von einem der Türme zum anderen spannt. Niemand bemerkt sie, wie sie minutenlang auf der Spitze eines Turmes sitzt, reglos und entrückt, scheinbar losgelöst von Ort und Zeit. Erst als sie mit ersten langsamen und kleinen, aber sicheren Schritten auf das Seil tritt, blickt ein junger Mann auf, flüstert seinem Nachbarn etwas zu und zeigt mit dem Finger nach oben. Mit gekrümmten Rücken und zitternden Händen, die sich noch nicht an das ausbleibende Tätigsein gewöhnt haben, verfolgen die beiden Männer die Bewegungen der Frau auf dem Seil, die ihrerseits eine unbeirrbare Ruhe ausstrahlt, ihr Körper wirkt zugleich kräftig und leicht wie eine Feder. Immer mehr Menschen legen ihre Arbeit nieder, schauen hinauf zur Seiltänzerin. Man wischt sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn, man hustet unterdrückt und atmet möglichst ruhig. Manchmal ist ein Murmeln zu hören, ein verschwommenes Tuscheln, doch laut zu sprechen wagt niemand, und mit jedem Meter, den die Frau vorwärts schreitet, greift sich das Schweigen auf dem Platz wieder Raum. Es ist ein anderes Schweigen, genährt von Spannung und Neugier, eine Wortlosigkeit, die dennoch eine Geschichte erzählt. Die Menschen, sie blicken nach oben, mit einem leisen, beinahe schüchternen Flackern in den Augen, während die Frau auf dem Seil sich von einem Turm zum anderen bewegt. Man schaut zu, man beobachtet, und man erkennt, wie sich die Zeit aus ihrer Starre löst, wie sie manchmal wankt und wogt, nur ein wenig, hin und zurück, wie das Seil unter den Füssen der Frau. Rund um die Menschen, die selbst wie kleine Türme unter den großen Türmen stehen, schwebt der Staub zu Boden, bleibt liegen, vermengt sich mit dem Sand, wird nicht aufgewirbelt. Irgendwann ist der Tanz auf dem Seil zu Ende, die Frau erreicht die andere Seite, setzt sich auf die Spitze des Turmes und verharrt minutenlang, reglos und entrückt. Die Menschen, sie verbleiben auf dem Platz, bewegen sich nicht, doch gleichzeitig steigen sie auf den ersten Turm, von welchem die Frau über das Seil ging, junge Männer und alte Frauen, sie alle klettern hinauf, und dann stehen sie dort oben, eng gedrängt, ohne Zwischenräume mehr. Sie schauen nach unten, jede und jeder blickt hinab zu sich selbst und dann auf das Seil, das straff gespannt zwischen den Türmen hängt. Dahinter und darüber ziehen einige weiße Wolken über den tiefblauen Himmel.

was für eine Spannung du in diesen großartigen Text als Crescendo gepackt hast, bewundernswert…
liebe Grüße
Finbar
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Vielen Dank, lieber Finbar, fürs Lesen und für deine Honigworte… Liebe Grüsse zurück…
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*lächel* fein klingt das…. HONIGWORTE…. *lächel*
ab und an hast du sie dir redlich verdient, diese Honigworte von mir, lieber Disputnik!
Liebe WE-Grüße
vom Lu
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ja, ich mußte beim Lesen auch an die zerstörten, zerbombten Häuser nach dem 2. Weltkrieg denken und an die Trümmerfrauen, an den Mut und die Kraft, die die Menschen bewiesen, als sie den Neuaufbau in Angriff nahmen, als sie aus dem staubigen Schutt Neues begannen.
Es ist Dir gelungen, ein wunderbar intensives Bild zu zeichnen, eine Kohlezeichnung, in der man in Schwarz und Weiß hoch oben mit wenigen Strichen skizziert, die Seittänzerin erkennen kann…zwischen den Türmen, die als einzige in den übrigen Ruinen gut zu erkennen sind.
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Vielleicht ist es am Anfang, auch an jedem Neuanfang, stets eine Skizze, eine Zeichnung mit wenigen Strichen, die man mit Mut und Kraft vertiefen muss… Vielen herzlichen Dank nochmals, liebe Bruni…
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was für eine sand verwehte seltsame Geschichte, lieber disputnik. Zweimal mußte ich sie lesen, bis ich ihren Sinn begriff, obwohl er doch auf der Hand zu liegen scheint, aber Du hast alles so fein verpackt,, u. in sich nochmal verwoben, daß man/frau schluckt und schluckt, bis alles dort am Platz angelangt ist, wo dann das Verstehen endlich zu wachsen beginnt.
Eine Düsternis schaffst Du, ein mechanisches sinnloses Säubern, eine Resignation, die alle erfaßt hat, die nicht wissen, was sie sonst tun könnten und tun müssen sie, auch wenn sie nun Robotern gleichen, bis sie die Frau auf dem Seilt erblicken.
Eine, die lebt und sich nicht beirren läßt, die das Seil betritt, über den Abgrund balanciert und zeigt, daß nicht alles zu spät ist, daß es immer wieder einen Beginn geben kann, der auch noch auf Schutt aufgebaut werden kann
Sie erreicht die Menschen in ihrer Not, sie sehen sich wieder als Gemeinschaft und erkennen sich selbst, wie sie eben noch waren…
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Liebe Bruni, vielen Dank dir, auch dafür, dass du den Text noch ein zweites Mal gelesen hast… Die Idee zur Geschichte entstand wohl beim Lesen der Tagebücher von Max Frisch. Dort beschreibt er unter anderem Erlebnisse und Begegnungen in Deutschland und anderen Ländern kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Ich kann mich nicht mehr genau entsinnen, aber irgendwo wird wohl gegaukelt und getanzt in den Trümmern… Ja, es kann wohl immer wieder einen Beginn geben, häufig muss es das, weil es nichts anderes mehr gibt… Nochmals lieben Dank dir!
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