Jemand sagte ihr einst, ein Moment erhalte seine Form erst im Rückblick, im Erinnern. In der Gegenwart, also in ihm selbst, lasse sich der Moment gar nicht erfassen und greifen. Somit, denkt sie sich, müsste jedes Bild, das man von einem Moment hat, erst nach diesem Moment entstanden sein. Was bedeuten würde, dass es gar nicht sonderlich wichtig ist, was tatsächlich passiert. Entscheidend ist, wie man sich daran erinnert.
Sie geht zurück zu einem Ort, an welchem sie vor Jahren war, zurück in eine Welt, die längst unter dem Geröll der Zeit begraben liegt. Sie weiß, wie sie sich an den Ort erinnert, denn sie sieht ihn jeden Tag, immer wieder. Kein anderer Platz ist so deutlich ausgeformt, so klar und detailliert gezeichnet. Das Gedächtnis ist ein eifriger Maler, und die Pinselstriche gruben sich tief und tiefer in ihren Kopf, bis sie das Bild und den Ort beinahe spüren konnte.
Jetzt ist sie wieder dort, an jenem Ort, stochert im lockeren Erdreich ihrer Erinnerungen nach den Momenten der Vergangenheit. Sie weiß nicht, ob es darum geht, etwas zu finden, oder darum, etwas loszuwerden, loszulassen. Doch sie erkennt, dass sie nicht erkennt, wo sie ist, dass sie den Ort nicht mehr kennt. Dass die Momente zwar hier stattgefunden haben, sich aber in ihrem Kopf und in ihrem unaufhörlichen Erinnern unerreichbar weit davon entfernten.
Da ist dieser Ort auf dem Bild der Gegenwart, das ihr so fremd ist. Da ist dieser Ort auf dem Bild der Vergangenheit, das so bekannt, aber offenbar eine Täuschung ist. Und da ist sie, zwischen diesen Orten. Sie suchte nach Orientierung und stolperte über das Geröll der Zeit und ist nun orientierungsloser als zuvor. Der Moment, den sie offensichtlich formte in ihrem Erinnern, in ihrer Welt, er hat in der wirklichen Welt keinen Ort mehr.

Weißt du, lieber Schreibfreund, warum wir so oft, fast immer vergleichen, Erinnerungen aus der Vergangenheit mit dem oftmals ungelenken Gestolpere in der Gegenwart und den unsicheren Schritten in eine Zukunft, die niemand kennt?
Liebe Montagsgrüße
vom Finbar
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Ich weiß zwar nicht, wie oft und wie stark man vergleicht, aber ich denke, Vergleiche können Standortbestimmungen sein, können Anhaltspunkte bieten, Orientierung, vielleicht sogar Halt, auch wenn es wohl kein vollkommen sicherer Halt sein kann; eine Erinnerung ist ja mitunter ein ziemlich bewegliches und formbares Ding… Was meinst denn du?
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im Erinnern verschiebt sich oft einiges, andere Bilder legen sich dazwischen und es kommt zur Täuschung. Orte tauschen sich untereinander aus, verschwimmen und andere kommen klar an die Oberfläche.
Die Momentaufnahmen, die wir gespeichert haben, können uns in Welten tragen, die es nicht mehr gibt und wir stehen hilflos vor der Erinnerung, der der Ort von damals fehlt.
Ich glaube, es kommt oft genug vor. Ich habe miterlebt, wie jemand in einer Straße stand, in der er als Kind einige Jahre bei der Oma wohnte und er kannte den Straßennamen ganz genau. Nun gab es noch den Ort mit einigen kleinen Änderungen, aber die Straße hieß anders, als es in seinem Kopf gespeichert war. Das brachte dann die gesamte Erinnerung ins Wanken…
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Dass die gespeicherten Erinnerungen neue Welten eröffnen, mag zwar manchmal seltsam oder sogar verunsichernd sein, doch es kann ja auch was Schönes sein; man kann sich eine Welt bewahren, die es in der Realität gar nicht mehr gibt (was vor allem dort gut ist, wo die Zeit die Dinge nicht besser machte…).
Vielen Dank, liebe Bruni, für deine Gedanken und deine Worte….
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An einem Ort, den ich nicht mehr erkannte, war ich auch vor ein paar Tagen. In mir drin bleibt der Erinnerungsort jetzt jedoch umso klarer erhalten. Seltsames Gefühl.
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Seltsam gut, weil klarer, oder nur seltsam seltsam? Jedenfalls lieben Dank fürs Lesen und die Gedanken…
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Jetzt, nachdem ich es in Wortfädeleien festhalten konnte, eindeutig seltsam gut. Zuvor eine ganze Kaskade von Seltsamigkeiten…manche Erinnerungen söllten eventuell gar nicht mit Bestätigung aufgehübscht werden. Sie sind gut so, wie sie sind.
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Seltsam gut klingt gut… Schön… Und ja, manche Erinnerungen sind wohl einfach gut so…
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Das ist mir auch schon mal passiert… Irgendwie gruselig, wie sehr unsere Erinnerung uns täuschen kann, nicht wahr? Zumal ja jeder Augenblick, den wir nicht gerade jetzt erleben, nur aus Erinnerung besteht.
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Ja, seltsam, wie die Erinnerung täuschen kann. Aber zum Glück nur manchmal; nicht wenige Erinnerungen bleiben klar und wahr… Vielen Dank dir fürs Lesen und für deine Gedanken…
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Hat dies auf Bilder und Buchstaben rebloggt und kommentierte:
Und wo ist das Leben, hier oder in der Erinnerung?
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Hier und dort und lieben Dank dir…
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