Ein Vater sitzt mit seinem Sohn in der Eisenbahn, der Junge ist vielleicht dreizehn Jahre alt, sein Gesicht ist hell und wach, nicht wie jenes des Vaters, das in dunklen Schatten zu liegen scheint, nur die Augen glitzern hin und wieder im Licht der Nachmittagssonne, der Vater, er ist da und doch Jahre entfernt, es riecht noch immer nach Metall und nassem Holz, nach dem Schweiß fremder Menschen, doch die Luft ist leichter, er atmet ein wenig freier, und wo damals nur kleine vergitterte Vierecke waren, sind heute richtige Fenster mit Glasscheiben, er hat einen eigenen Sitzplatz, und im ausgemergelten Stoffbeutel neben sich weiß er ein dunkles Brot, frisch vom Bäcker aus dem Dorf, das er mit seinem Sohn vor einigen Stunden verließ, um nach verlorenen Jahren zu suchen, nach verlorenen Gesichtern, nach verlorenen Namen, und während der Zug durch eine neue Welt rumpelt, durch trockenes Hinterland, fremd und bekannt zugleich, blickt er hinaus auf die Landschaft und zurück auf eine Zeit ohne Zeit, zurück auf das, was nie vergessen werden wird, werden darf, er denkt an das Dasein in Gefangenschaft, gefangen zwischen Mauern, gefangen zwischen dem Leben, das hinter ihm lag, und dem Tod, der vor ihm lauerte, und manchmal weiß er auch heute nicht, ob er dankbar sein soll, dass er befreit wurde, denn wirklich frei ist er noch immer nicht, und nun blickt er aus dem Fenster des Zuges, der manchmal an verlassenen Gebäuden vorüberfährt, und irgendwann fragt der Sohn, was es dort draußen eigentlich zu sehen gebe, und der Vater flüstert beinahe, er erzählt, dass die Schienen und Hütten von damals wahrscheinlich nicht mehr existierten und dass der Rauch, jeder Rauch, heute anders rieche, und der Sohn, er versteht wohl nicht, was der Vater meint, aber vielleicht gibt es erst dann ein Verstehen, zumindest in Ansätzen, wenn man sich selbst hinter Gittern befand.
Ein Spiel von kleinen Kindern, sie sind Polizisten ohne Waffen, aber mit Handschellen aus Kunststoff, und sie verhaften ihren Vater, nehmen ihn gefangen, sperren ihn ein, in den eingezäunten Teil des Gartens, sie schließen das kleine gusseiserne Tor hinter ihm und sind stolz, dass sie ihn erwischt haben, denn er ist ein Räuber und gehört eingesperrt, und der Vater, er versucht sich an der kindgerechten Inszenierung eines gefährlichen Verbrechers und blickt grimmig durch die Gitterstäbe, er knurrt ein wenig, nicht zu sehr, er will die Kinder nicht ängstigen, doch dann fällt die Maske und der Vater lacht, nicht nur über den Moment in der Gegenwart, der seine eigene Zeit zu haben scheint, sondern auch über ein altes Bild, denn in den Gesichtern der Kinder spiegelt sich sein eigenes, auch der Vater war als Kind ein Polizist mit Handschellen aus Kunststoff, und diese Erinnerung, sie hat ebenfalls ihre eigene Zeit, und wie sich der vergangene und der gegenwärtige Moment überlagern, entsteht eine unbegreifliche Substanz, ein reliefartig aufgebautes Konstrukt aus eigenen Zeiten, so dicht und reichhaltig, so wahrhaftig und echt, und während der Vater im Licht der Nachmittagssonne in seinem Gefängnis weilt, spürt er die Tiefe der Zeit, den Wert der Momente, und irgendwann reißen die Kinder ihn aus den Gedanken und geben ihm zu verstehen, dass er für immer hier drin bleiben müsse, und der Vater nickt lächelnd und sagt, dass er gar nicht mehr rauskommen wolle, und die Kinder, sie verstehen wohl nicht, was der Vater meint, aber vielleicht gibt es erst dann ein Verstehen, zumindest in Ansätzen, wenn man sich selbst hinter Gittern befand.
Nachdem die Tochter ohne Abschied gegangen war, begann der Vater, mit ihr zu reden, während ihre Mutter aufhörte, bei ihm zu sein, und seither sitzt er so oft wie möglich im einzigen Raum, dem noch ein wenig Wärme innewohnt, die Wärme einer Zeit, die längst aufgehört hat, sich zu bewegen, eine Zeit, die für immer stehenblieb, während die Tochter für immer liegenblieb, und nur hier, in diesem Zimmer, hört er noch ihre Stimme, nur hier findet er noch Fragmente ihres Duftes; die Läden der beiden Fenster sind geschlossen, durch die wenigen Schlitze der Lamellen zeichnet das Licht der Nachmittagssonne schmale Streifen auf den staubigen Teppichboden, ein stummes Gittermuster, eine geheime Schrift, die nur er zu entziffern weiß, und hier, während die restliche Welt sich weiterdrehen muss, verharrt er und spricht mit ihr, hört ihr zu, lauscht ihrer Stimme, und immer wieder sagt sie, er solle raus, solle die Zeit wieder in Bewegung setzen, doch er schüttelt nur den Kopf und sagt, dass er dort draußen nichts verloren habe, nur hier drinnen, und die Tochter, sie versteht wohl nicht, was der Vater meint, aber vielleicht gibt es erst dann ein Verstehen, zumindest in Ansätzen, wenn man sich selbst hinter Gittern befand.

Diese Vielfalt der Gitter und doch bewirken alle dieses strikte Trennen, egal, ob zartdochstabildrahtig gewebt oder dickeisenstangig. Wer könnte den Blick nach draußen schon verstehen, der nicht die Zelle teilte. Ahnen vielleicht, es wäre ja manchmal schon genug, dieses zu versuchen.
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Hmmja, mehr als versuchen geht wohl meistens nicht… Vielen herzlichen Dank fürs Lesen und Weiterdenken!
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