Da war diese Frau. Nach dem Versinken des Tageslichts tauchte sie auf. Jeden Sonntagabend, immer wieder, ohne Unterlass, schon seit Wochen.
Am Anfang ließ sich Besorgnis in den Augen der Leute ausmachen, eine kleinmütige Anteilnahme. Da waren Fragezeichen, zwar kümmerlich und in schludriger Schrift skizziert, aber immerhin. Warum ist sie nackt? Warum weint sie stumm? Warum erscheint sie nur am Sonntagabend? Wer ist sie? Was treibt sie an? Vereinzelt sprach man sie an, doch die Frau verweigerte jedes Wort. Die Antworten blieben aus. Und irgendwann verstummten auch die Fragen.
Ihr Auftauchen hingegen, es blieb unverändert. Jeden Sonntagabend kam sie ins Dorf, nackt und still, mit feuchten Wangen und glänzender Haut.
Mit der Zeit veränderten sich die Blicke der Leute, ihre Augen, sie wurden enger und erzählten zunehmend von Unsicherheit, von Animosität und dieser widerborstigen Angst vor den Dingen, die man nicht kennt. Vielleicht war diese Angst schon vorher da, vielleicht wahrte man lediglich einen Schein, vielleicht fehlte der Mut, die eigene Mutlosigkeit anzuerkennen. Vielleicht waren sie auch einfach irgendwann zu stark geworden, die Schmerzen beim leeren Schlucken.
Sie ging mit kurzen Schritten durch die Gassen, jeden Sonntagabend, bis zu einem Haus, in dem schon seit Jahren niemand mehr wohnte.
Die Leute wurden allmählich nervös. Nachdem die letzten Fragen längst ohne Antwort verhallt waren, begannen die Spekulationen und Hypothesen. Ungezähmte Geschichten entstanden, von Dingen, die der Frau widerfahren waren, und vor allem von Dingen, die sie getan hatte. Keine der Theorien hätte sich durch Beweise untermauern lassen, doch nach Beweisen schien niemand zu streben, der Anspruch auf Wahrheit und Wahrhaftigkeit war offensichtlich ziemlich leicht zu vernachlässigen.
Die Frau, sie stellte sich weiterhin jeden Sonntagabend vor den Eingang jenes Hauses. Und blieb einfach stehen, nackt und stumm und reglos, stundenlang.
Nachdem die Leute ihre Erzählungen so lange durch ihr Dorf getrieben hatten, bis sich daraus ein verworrenes Surrogat der Realität geformt hatte, beschlossen sie, die Frau mit ihren Erkenntnissen zu konfrontieren. Einige Männer sahen sich zu Repräsentanten des Volkes berufen und stellten sich an einem Sonntagabend vor das leerstehende Haus. Zwei junge Schwestern baten die Männer, die Fremde in Ruhe zu lassen, doch die Männer blieben Männer blieben standhaft und warteten auf die Frau.
Als sie erschien, an jenem Sonntagabend, ging sie an den Männern vorüber, als wären sie nicht zugegen. Unbeirrt verharrte sie vor dem Haus.
Die Männer traten zu ihr hin. Du bist hier nicht willkommen, brummte einer. Ein anderer zündete sich eine Zigarette an und blies ihr den Rauch ins Gesicht. Hau ab, du dreckiges Stück Scheiße, zischte er. Die Frau schwieg, das schwache Licht sammelte sich in einer Träne in ihrem Augenwinkel, was aber niemandem auffiel. Schmutzige Hände griffen ihr an die Brüste und zwischen die Beine, die Männer begannen, sie zu schubsen, hin und her, bis sie schließlich stürzte. Die Stimmen wandelten sich bereits zu einem Johlen, doch in diesem Moment setzte heftiger Regen ein. Rasch löste sich die Gruppe auf, die Männer gingen schnell davon, mit Verwünschungen auf den Lippen.
Langsam und zitternd stand die Frau wieder auf. Während die Regentropfen wie kleine Metallkugeln auf ihre nackte Haut prallten, stellte sie sich wieder vor den Eingang des Hauses.
Im Dorf beriet man sich öffentlich, diskutierte und lamentierte und brüllte, ballte Fäuste. Es schien, als würde man mit lauten Stimmen einen Holzklotz behauen, würde schleifen und feilen, bis sich daraus etwas formte, etwas Allgemeingültiges, eine zurechtgezimmerte Meinung, die offenbar allen behagte. Nur die beiden jungen Geschwister widersetzten sich dieser Meinung, diesem Willen des Volkes, sie erhoben ihre Stimmen, erhoben Einspruch. Nach kurzer Beratung wurden sie eingesperrt, vorübergehend, vorsichtshalber, man musste doch wachsam bleiben, man konnte ja nie wissen.
Falls die Frau von den bisherigen Erlebnissen verunsichert und verängstigt gewesen sein sollte, ließ sie es sich nicht anmerken. Auch am folgenden Sonntagabend kam sie über die weiten Felder in das Dorf und ging durch die Gassen, ohne Schwanken oder Zögern.
Als die Leute im Dorf realisierten, dass die Frau ihr ungebührliches Verhalten nicht zu ändern gedachte, setzten sie den zurechtgezimmerten Holzklotz in Brand und entzündeten daran ihre Fackeln. Kleinere Gruppen fanden sich zu einem großen Tross zusammen, und schließlich marschierte man grölend und rufend zu jenem verlassenen Haus. Wie erwartet stand die Frau vor dem Eingang, nackt und still, stumm und reglos, mit feuchten Wangen und glänzender Haut. Die Leute blieben stehen, und einen Moment lang war alles ruhig, ein schweigendes Standbild, gebrochen nur vom Knistern und Flackern der Fackeln. Ein Moment an einem Sonntagabend, ein Atmen der Zeit, ein sich öffnender Raum voller Wege und Möglichkeiten. Doch der Moment, er ging vorüber.
Stunden später, am Ende dieses Sonntagabends, lag sie noch immer da, die Frau. Nackt und still. Stumm und reglos. Mit glänzender Haut.

…sprachlos nun, nachdem gelesen…
…hautnah empfunden, Gänsehautnah…
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Zwar mag ich dich sprachvoll lieber als sprachlos, lieber Finbar, aber dennoch und überhaupt; vielen lieben Dank dir!
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ich frage mich mit einem sehr beklommenen Gefühl, ob es in der Realität auch so ablaufen könnte,
ich zögere, wäge Für und Wider ab und komme zu dem Schluß, daß es durchaus so sein könnte… leider,
weil sich hier die Massen vereinigen und aus einer hilflosen Person, nackt und bloß, wird mit der Zeit ein
Störenfried und Störenfriede dürfen nicht sein, sie gefährden die sogenannte Ordnung und ich beginne
mal wieder, meine eigene Art zu hassen und sie auf den Mond zu wünschen oder doch lieber in die Tiefe
des Meeres , auf jeden Fall irgendwo dorthin, wo sie kein Unheil anrichten können, oder besser noch,
dorthin, wo ihnen per Spritze je eine ausreichende Dosis Mitgefühl und Mitleid eingeimpft wird…, aber mit
freiem Willen, denn auch das ist wichtig, daß es nicht gewaltsam geschieht, von einem, der meint, es mal
wieder besser zu wissen als alle anderen…
Ich weiß, eine völlig utopische Idee von mir, aber das wünsche ich mir eben
Kleider über sie zu legen, hätte das tiefliegende Problem der Menschheit leider nicht gelöst
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Nein, Kleider hätten dieses tiefliegende Problem, diese tiefliegende Angst nicht gelöst, wohl auch andere Dinge nicht… Und ich weiss gar nicht, ob es zwingend Mitgefühl bräuchte, aber in jedem Fall Toleranz, Akzeptanz, das Eingestehen der Möglichkeit, dass es mehr gibt als das, was man selber ist. Vielen lieben Dank, liebe Bruni, für deine Gedanken und Ausweitungen und Vertiefungen… Und frohe Ostern dir…
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Kommen Akzeptanz und Toleranz nicht dadurch zustande, daß man mitfühlen kann, sich hineinfühlen kann in die Gefühle der Menschen, die anders scheinen, die unverständliche Dinge tun oder kann man es nur, wenn Akzeptanz und Toleranz fest in einem verankert sind? hm, grübel…
Auch Dir und Deiner Family ein frohes Osterfest von mir mit einer Menge von Osterhasen um Dich herum *lächel*
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Hmmja, grübel… Mach ich auch, lohnt sich manchmal… Nochmals lieben Dank dir und schönes Osterwochenende…
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Er geht wieder unter die Haut, Ihr Text, Herr Disputnik. Ich denke wie 500wörterdiewoche, was geht es die anderen an, wenigstens einen Mantel um die Schultern, eine Decke~~~mehr bedarf es doch anfangs nicht. Nein, der Mob muß sich ballen, erstarken in der Masse und sich vergessen. Ach, und es geschieht gerade jetzt genauso.
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Es geschah und geschieht doch immer wieder, es ist und bleibt gefährlich… Eine Decke um die Schultern reicht vielleicht nicht immer, ist vielleicht auch nicht immer das Richtige, doch es wäre ein Anfang, das Versuchen wäre was wert… Vielen Dank fürs Lesen und für die Worte…
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Und niemand ist auf die Idee gekommen, das naheliegendste zu tun – ihr Kleidung zu geben? Warum muss man wissen, woher ein nackter Mensch kommt und was er will, wenn man doch genau sieht, was er braucht?
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Auf die Idee gekommen dürften wohl einige sein, doch Ideen lassen sich wie vieles andere sehr gut unterdrücken… Und vielleicht wollte sie gar keine Kleidung, vielleicht war sie auch in dieser Hinsicht einfach anders… Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Gedanken…
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