Um ihre Honigausbeute gebührend zu feiern, veranstalteten die Bären im Abstand von jeweils 63 Tagen ihr traditionelles Honigfest. Jedes Mal war ein anderer Bär für die Organisation zuständig, stellte seine Höhle als Festsaal zur Verfügung, sorgte für musikalische Unterhaltung, offerierte Getränke und Snacks. Man wechselte sich ab, in festgelegter Reihenfolge, jeder leistete einen Beitrag, niemand kam zu kurz, alle waren zufrieden. Doch irgendwann, in den letzten Minuten eines weiteren Honigfestes, räusperte sich Bruno Bär, ein kleiner reicher Bär mit einer merkwürdigen Frisur, nahm einen tiefen Schluck von seinem selbstgebrannten Schnaps und teilte den übrigen Bären feierlich mit, dass er fortan nicht mehr bereit sei, seine Höhle zur Verfügung zu stellen. Aufwand und Bemühungen seien ihm zu groß, die Unordnung zu lästig geworden, und überhaupt sei es in seiner kleinen Höhle doch viel zu eng für die stetig größer werdende Bärenschar. Zwar wollte er auch weiterhin mitfeiern und keinesfalls auf den Honig verzichten. Doch in seinen drei Wänden sollte das Honigfest nicht mehr stattfinden.
Natürlich waren die anderen Bären erstaunt. Wie sollten sie sich nun verhalten? Einige wollten mit Bruno Bär nichts mehr zu tun haben, sie empfahlen, ihn zu meiden oder sogar gänzlich aus dem weitläufigen Waldgebiet zu verbannen. Andere wiederum waren begeistert davon, wie sich Bruno Bär den vereinbarten Abmachungen widersetzte, und hätten es ihm gerne gleichtun wollen. Und wieder andere blieben überraschend still, äußerten sich nicht zum Thema und zogen sich nur ein wenig zurück. Bruno Bär stand derweil vor seiner Höhle, blickte sich mit einem schwierig zu beschreibenden Gesichtsausdruck um, ließ seine Zunge nervös über die Lippen wandern. Und wartete.
Als das nächste Honigfest anstand, band sich Bruno Bär seine beste Krawatte um und ging zu Toto Bär, der betreffend der Organisation des Festes an der Reihe war. Doch die Höhle von Toto Bär war verwaist, kein Bär war zu sehen. Bruno Bär sah sich suchend um, wartete noch eine Stunde, vielleicht auch zwei, doch niemand tauchte auf. Also ging er wieder nach Hause, wo er sich mit selbstgebranntem Schnaps so heftig betrank, dass er beim Pinkeln vornüber kippte und sofort einschlief. Als er am nächsten Morgen an der gleichen Stelle erwachte, konnte er sich nicht mehr an die vergangene Nacht erinnern und wunderte sich lediglich über den Geruch von Urin.
63 Tage später war sich Bruno Bär nicht mehr ganz sicher, wo das Honigfest stattfinden sollte. Er rief Magnus Bär an, der ihm jedoch keine Auskunft geben wollte, und auch bei Fred Bär stieß er auf taube Ohren. Nichtsdestotrotz band sich Bruno Bär ein weiteres Mal seine beste Krawatte um und ging mit raschen Schritten von Höhle zu Höhle, bis er schließlich bei José Bär eintraf, vor dessen Behausung sich die gesamte Bärenschar versammelt hatte. Als sie Bruno Bär erblickten, drehten sich alle Bären wortlos um, gingen in die Höhle und stellten eine Tafel vor den Eingang, auf welcher geschrieben stand, dass es sich um eine private Gesellschaft handelte und Unbefugten der Zutritt untersagt sei. Bruno Bär lachte höhnisch, wurde wütend, begann zu zetern, lachte dann wieder höhnisch, brach in Tränen aus, trommelte an einige Bäume, stieß erstickte Schreie aus, lachte noch einmal höhnisch, ließ dann den Kopf sinken und trottete nach Hause, wo er sich mit selbstgebranntem Schnaps so heftig betrank, dass er sich übergeben musste, dabei vornüber kippte und sofort einschlief. Als er am nächsten Morgen an der gleichen Stelle erwachte, konnte er sich nicht mehr an die vergangene Nacht erinnern und wunderte sich lediglich über den Geruch von Erbrochenem.
Weitere 63 Tage später klammerte sich Bruno Bär bereits am Morgen des Honigfestes an ein kleines Glas, das er immer wieder mit selbstgebranntem Schnaps füllte. Als er ein weiteres Mal austreten musste, traf er im Wald auf Toto Bär, der gerade singend und pfeifend auf dem Weg zum Honigfest war. Toto grüßte ihn reserviert, aber freundlich, und wollte bereits weitergehen, doch Bruno bemühte sich heftig, ihn in ein Gespräch zu verwickeln. Er erkundigte sich nach dem Befinden, fragte nach der Honigausbeute und dem Honigfest, sprach dabei so schnell und hektisch, dass seine Zunge immer wieder über die spitzen Zähne stolperte. Toto Bär blieb äußerst einsilbig in seinen Antworten, und schließlich standen sie sich schweigend gegenüber. In der Luft lag der Duft von Honig und Harz, in den Wipfeln der Bäume zwitscherten einige Vögel, und manchmal waren Klangfetzen zu hören, die offenbar vom tiefen Grummeln singender Bären rührten. Dann nickte Toto Bär förmlich, drehte sich um und ging weiter. Bruno Bär blieb stehen, starrte mit leerem Blick auf eine belanglose Stelle im Wald, während sich seine Augen immer mehr füllten. Minuten und Stunden vergingen, zerflossen zäh wie Honig. Nachdem das Licht des Tages längst an einem blutenden Himmel verendet war, legte sich Bruno Bär auf den Boden und schlief ein. Als er am nächsten Morgen an der gleichen Stelle erwachte, konnte er sich an vieles erinnern, an sehr vieles. Nicht jedoch an den Geschmack und den Geruch von Honig.

Ich liebe Bärengeschichten.
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Schön! Auch wenn’s bei dieser Bärengeschichte nicht viel zum Liebhaben gibt…
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Was hat er denn erwartet? Was dachte er denn, wie die anderen reagieren würden?
Trotzdem tut er mir am Ende irgendwie leid.
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Wahrscheinlich hat er eben zu wenig gedacht. Das ist wohl gerade das Problem…
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Und auch wenn Bären eher Einzelgänger sind, Menschen sind es nicht. Doch irgendwann werden die Gräben wohl einfach zu hoch, um noch über den Rand blicken zu können. Und es bleibt fraglich, ob dann noch jemand eine Leiter zur Verfügung stellen wird. Und Christopher Robin bleibt dann wohl lieber bei Pu, als sich um seinesgleichen zu kümmern.
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Hmmja, und wer anderen eine Mauer baut, bleibt selbst allein… Das Scheitern am Über-den-Rand-Blicken, ganz egal welcher Rand, hat wohl eine lange Tradition, woran sich offenbar auch nicht viel ändern dürfte… Und von Pu könnten manche Menschen noch einiges lernen…
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