Während die Linien sich allmählich wieder ordnen und die Konturen zurückkehren, während der Sturm sich legt und die Schwerkraft wieder wirkt, kaut sie auf ihrer Unterlippe, beißt ein wenig zu heftig in ihr Fleisch und schmeckt alsbald das Blut, ihr Blut, bittersüß und metallisch, nur ein Tropfen vielleicht, der sich vermischt mit dem salzigen Geschmack der verschluckten Tränen, und sie denkt, dass verschluckte Tränen auf Englisch weniger plump klingen als auf Deutsch, und sie denkt, dass Blut und Tränen eine seltsame Geschmacksmischung erzeugen, und sie denkt, dass sie ganz genau weiß, weshalb sie blutet, aber eigentlich nicht weiß, warum sie weint, und sie denkt, dass sie doch eigentlich glücklich sein müsste, zufrieden, befriedigt, erfüllt vom tiefen Gefühl der Zuneigung, in bester Weise erschöpft vom Liebemachen, warm und befreit und angenehm gelöst. Sie müsste doch. Sie müsste doch. Sie müsste doch, denkt sie, und eigentlich ist sie es auch. Sie ist nicht richtig traurig, es tut nicht richtig weh, sie fühlt sich nicht richtig schlecht. Trotzdem weint sie. Trotzdem war da dieser Biss auf die Unterlippe.
Einst baute sie aus kleinen Holzklötzen einen Turm. Zuerst war er ganz klein, ziemlich unscheinbar. Doch mit jedem Holzbaustein wuchs er, wurde höher, wurde irgendwann grösser als sie selbst, sie musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um den Turm weiterzubauen, und schließlich ging es nicht mehr, ihre Finger reichten nur noch knapp bis zum obersten Holzklotz, aber nicht weiter, und während sie überlegte, ob sie einen Stuhl holen sollte, machte sie eine unglückliche Bewegung und berührte den Turm, nur ganz leicht, doch es reichte. Als er einstürzte, war das Krachen gar nicht sonderlich laut, auch war es rasch wieder ruhig, doch in ihren Ohren blieb das Dröhnen, und sie kaute auf ihrer Unterlippe, biss ein wenig zu heftig in ihr Fleisch und schmeckte alsbald das Blut, ihr Blut, bittersüß und metallisch, nur ein Tropfen vielleicht, der sich vermischte mit dem salzigen Geschmack der verschluckten Tränen. Sie wusste, sie müsste doch eigentlich zufrieden sein, dass sie einen solch hohen Turm zu bauen vermochte. Sie müsste doch. Sie müsste doch. Sie müsste doch, dachte sie, und eigentlich war sie es auch. Trotzdem war da dieser Biss auf die Unterlippe.

Ich muss nicht. Ich bin es. Und die Tränen, sie passen doch eigentlich ganz gut zum tiefen Gefühl von Stolz, Befriedigung und Liebe. Und ich glaube, das kleine Mädchen wird beim nächsten Versuch den Turm zu bauen kaum einen Gedanken an den letzten Sturz verschwenden – und wenn, dann nur ein ganz kleiner, den sie mit ihrer Gewissheit, das richtige zu tun sogleich aus der Welt schaffen kann.
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Ich weiss, wirklich, und ich bin glücklich drüber, und dankbar.
Doch, ganz und gar abgesehen von diesem Turm, von diesem Sturm, irgendwo anderswo, ist die Angst vor dem Einsturz vielleicht manchmal der Grund dafür, dass man nicht mehr baut. Oder so.
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