Es war doch alles perfekt. In einer Welt, in der es keine Perfektion gibt, war sie so nahe dran, wie es nur geht. Sie hätte arm oder hässlich oder dumm oder ängstlich oder krank oder missbraucht oder benachteiligt sein können, ein Opfer der Umstände, doch sie war nichts davon, war kein Opfer. Viele der Dinge, nach denen andere streben, waren ihr in die Wiege und auf die Pfade des Lebens gelegt worden, es fehlte ihr an nichts, und wenn doch, bedurfte es nur wenig, damit sie es bekam. Sie mochte den Begriff privilegiert nicht sonderlich, der mit unsichtbarer Tinte auf ihre Stirn tätowiert war. Sie hätte einen großen Hut tragen können, damit die Stirn verborgen blieb, doch es hätte nichts geändert, und außerdem trug sie nicht gern Hüte.
Lange Zeit schien alles in Ordnung. Jedes Element, aus dem ihr Leben zusammengebaut war, hatte seinen Platz und fügte sich in ein großes Ganzes, etwas Rundes, das offensichtlich durch die Zeit rollte, ohne sich mit Widerständen konfrontiert zu sehen. Wenn sie gefragt wurde, wie es ihr gehe, antwortete sie mit dem Wort gut, sagte manchmal sogar sehr gut und fühlte sich nicht als Lügnerin. Doch irgendwo keimte ein giftiges Korn. Sie wusste nicht genau, was da wuchs, doch fragen mochte sie niemanden, nicht einmal sich selbst. Lieber legte sie den Mantel des Schweigens darüber. Allmählich war ihr ein wenig kalt, sie hätte einen Mantel ebenfalls gut gebrauchen können, doch sie trug nicht gern Mäntel.
Immer mehr breitete sich das Gift in ihr aus, drang in ihre Glieder und lähmte jeden Muskel. Während die Menschen in ihrem Umfeld mit scheinbarer Leichtigkeit die größten Sprünge vollführten, wurde ihr selbst die Luft eines Frühlingstages zu schwer und ließ sie immer wieder zu Boden sinken. Worum es sich bei jenem Gewicht handelte, das unsichtbar auf ihr lastete, konnte sie noch immer nicht begreifen, doch sie hörte auch zusehends auf, nach Erklärungen zu suchen. Sie wusste, dass sich etwas ändern musste, doch sie wusste nicht, was es war, überdies fehlte ihr die Kraft dazu. Vielleicht hätte ein neues Kleid geholfen, ein Kleid gegen die Leere, ein Kleid für Leib und Leben, doch sie trug nicht gern Kleider.
Schließlich liegt sie irgendwann auf dem Boden, ohne Hut, ohne Mantel, ohne Kleider, gekrümmt wie damals als Säugling, als sie noch nicht sprechen konnte, als sie noch nicht wusste, wie kalt und leblos der Raum hinter dem Vorhang sein konnte. Sie wäre gern wieder zurückgekrochen, zurück in ihre Mutter, zurück an die Wärme, zurück in der Zeit. Damals war doch alles perfekt. In einer Welt, in der es keine Perfektion gibt, war sie so nahe bei sich selbst, wie es nur geht. Sie war nicht arm oder hässlich oder dumm oder missbraucht oder benachteiligt. Sie war kein Opfer. Mittlerweile ist sie wohl eines geworden, ist vergiftet worden. Aber immerhin muss sie nicht länger nach der Täterin suchen. Sie wurde erwischt. Sie wurden beide erwischt.

Was hinter einer scheinbar perfekten Fassade alles kaputt sein kann… Manchmal reicht kein Mantel, um einen gegen die Kälte von innen zu schützen.
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Wie recht du hast, ja, gegen die innere Kälte bleiben wir oft schutzlos… Vielen lieben Dank für deine Worte…
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die bunte Palette der Selbstzweifel kann unendlich lang werden, je perfekter wir versuchen zu sein…
ein sich giftig einschleichender Teufelskreis,
gut von dir eingefangen,
beeindruckend
wieder
mal
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Hab ein schönes WE!
Liebe Grüße
vom Finbar
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Ja, das Streben nach Perfektion führt oftmals auf unwegsame Pfade… Und wenn man aussen nicht auf Widerstände stösst, baut man manchmal innen welche…
Vielen lieben Dank für deine Worte, lieber Finbar…
Auch dir ein wunderschönes Wochenende und liebe Grüsse…
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