Wahrscheinlich war er kein wirklicher Freund, nur ein temporärer Gefährte. Er war etwa zwei Meter groß, dünn und schlaksig, mit langen Armen und langen Fingern und langen Beinen, an deren Ende riesige Füße nach vorne ragten, während in seinem schmalen Gesicht eine mächtige Nase alles andere in den Schatten stellte. Wenn er durch die Gänge schlich, blieb sein Oberkörper seltsam steif, nur die Beine bewegten sich in langsamem Rhythmus, und irgendwie wirkte er wie eine Comicfilmfigur, die stets ein wenig apathisch durch statische Landschaften schlurfte. Sein Name war Yvan, er war ein paar Jahre älter als ich. Wir arbeiteten im gleichen Büro und erledigten Aufgaben, die uns beiden gleichermaßen egal waren. Wir verbrachten unsere Kaffee- und Mittagspausen zusammen, redeten über die Nichtigkeiten und Wichtigkeiten des Lebens, und manchmal trafen wir uns auch am Abend oder an den Wochenenden.
Yvan fuhr einen alten 3er BMW, und wenn man einstieg, gelangte man in einen wunderlichen Wald. An allen erdenklichen Stellen hingen Duftbäumchen, manche grün, manche violett und die meisten gelb, weshalb das Aroma von synthetischer Vanille eindeutig überwog. Zumindest dann, wenn nicht ein anderer Geruch durch den bunten Wald schwebte. Denn noch stärker als den Bäumchen war Yvan dem Gras zugeneigt, und wenn wir in seinem Auto unterwegs waren, reichten wir in der Regel einen Joint hin und her. Zwischendurch hielten wir an, Yvan holte den meistens gut gefüllten Plastikbeutel aus dem Handschuhfach und rollte den nächsten Joint, während die verschiedenen Gerüche in der Luft zu einem eigenartigen Konglomerat verschmolzen.
Eines Abends saß ich ein weiteres Mal bei Yvan im Duftbäumchenwald, wir rauchten schweigend und fuhren gerade durch einen Tunnel der Stadtautobahn, als hinter uns blaue Lichter aufleuchteten. Yvan blickte in den Rückspiegel und ließ dann seine Gesichtszüge entgleisen. War er ansonsten ein überaus ruhiger und gemächlich agierender Zeitgenosse an der Grenze zur vollkommenen Verweigerung jeglicher Dynamik, wurden sein schlaksiger Körper und vor allem seine hinter der Nase kaum erkennbaren Augen von einer ungewohnten Hektik erschüttert. Er schrie, ich solle das Fenster hinunterkurbeln, auf sein Zeichen warten und dann den Joint sowie den Plastikbeutel aus dem Handschuhfach möglichst unauffällig hinauswerfen. Seine Finger zitterten auf dem Lenkrad, er blickte abwechselnd in den Rückspiegel und auf die Straße. Als das Polizeiauto zum Überholen ansetzte, raunte er Jetzt!, und ich ließ den Joint und seinen gesamten Grasvorrat auf den Asphalt im Tunnel fallen.
Die Polizisten überholten, doch anstatt sich vor den alten BMW zu drängen und Yvan zum Anhalten zu bewegen, rasten sie unbeirrt weiter. Als wir den Tunnel verlassen hatten und die blauen Lichter nicht mehr zu sehen waren, bremste Yvan ab, fuhr auf den Pannenstreifen und hielt an. Sein Leib bebte, er atmete schwer und stammelte unverständliche Worte in den Duftbäumchenwald hinein. Schließlich sagte er, ich solle sitzenbleiben, und stieg aus. Ich drehte mich um, blickte aus dem Heckfenster und sah Yvans Silhouette allmählich in der Dämmerung verschwinden.
Ich weiß nicht, wie lange ich im Duftbäumchenwald saß, während der abendliche Verkehr der Stadtautobahn an mir vorüberzog wie ein rauschender Fluss. Vielleicht war es nur eine Viertelstunde, vielleicht auch eine ewige Nacht. Immer wieder drehte ich am Autoradio, wechselte den Sender, schaltete aus und wieder ein, hörte schlechte Musik und gelangweilte Nachrichtensprecher. Irgendwann wurde die Tür geöffnet, und Yvan stieg ein. Er warf mir den Plastikbeutel mit Gras in den Schoss und widmete sich einem langwierigen Hustenanfall, bevor er den Motor anließ und versuchte, den alten BMW in den Verkehrsstrom einzureihen. Ich betrachtete ihn von der Seite. Sein Haar war zerzaust, das Gesicht ziemlich schmutzig, die Knöchel seiner rechten Hand waren aufgeschürft und bluteten ein wenig. Ich fragte ihn, was passiert sei, doch er zuckte nur mit den Schultern. Nach einigen Minuten fuhr er auf einen Parkplatz, hielt an, nahm mir den Plastikbeutel aus den Händen und rollte einen Joint.
In den nächsten Tagen versuchte ich mit einigen schlechten Witzen, das Gespräch auf jenen Abend zu lenken, um herauszufinden, was mit Yvan im Tunnel passiert war, doch er blockte jedes Mal ab. Wir verbrachten noch einige gemeinsame Stunden im Duftbäumchenwald, redeten über die Nichtigkeiten und Wichtigkeiten des Lebens und ließen uns vom Duftgemisch aus Vanille, Apfel, Lavendel und Marihuana benebeln. Bald darauf kündigte Yvan seine Stelle, zog in eine andere Stadt, und wir verloren uns aus den Augen.
In meiner Welt ist er schon lange nicht mehr existent, ich weiß nicht einmal, ob er noch lebt. Doch wenn ich im Supermarkt vor dem Regal mit den Lufterfrischern fürs Auto stehe, sehe ich ihn vor mir, und wenn ich durch den Tunnel der Stadtautobahn fahre, steht er am Straßenrand und sucht seinen Plastikbeutel. Wahrscheinlich war er kein wirklicher Freund, nur ein temporärer Gefährte. Dennoch ist er immer da, er und sein alter 3er BMW mit dem Duftbäumchenwald.

*grins*, Duftbäumchen faszinieren mich, irritieren mich… immer und überall
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Da ging es Yvan wohl ähnlich… Nochmals lieben Dank fürs Lesen…
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sehr amüsat, Dein Artikel über den armen DuftbäumchenIvan, der sich irrte und dabei fast sein Gras verloren hätte…
Liebe Grüße von Bruni
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Liebe Bruni, vielen herzlichen Dank fürs Lesen und für deine Worte… Liebe Grüsse zurück…
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