Irgendwann fällt man vom Rad und bleibt liegen. Kein Knall, kein Geräusch, nur eine stumme Explosion, eine Detonation ohne Ton. Da werden Tage gestapelt, Wochen und Jahre, ein bunter Haufen aus Lebensfragmenten, man nimmt alles mit und speichert es ab, es sammelt sich an und häuft sich. Man baut sich ein Haus, man baut sich ein Leben, vielleicht sogar eine Zukunft. Man lernt das Radfahren, das Lesen und das Schreiben, das Reden und das Schweigen, das Stolpern und das Aufstehen, man lernt nie aus, und irgendwann fällt man vom Rad und bleibt liegen. Wenn es regnet, sucht man in den Zeitungen nach Tagen mit einer Sonne, ein gelber Kreis mit acht Strichen ist die Hoffnung, dass alles besser wird, und wenn nicht alles, dann zumindest das Wetter. Wenn die Nacht beginnt, glaubt man an den nächsten Morgen, doch man bleibt unsicher und unwissend, bis die Sonne hinter den Bergen aufsteigt, und irgendwann fällt man vom Rad und bleibt liegen. Man wirft die leeren Gläser und die Kaffeemaschinen und die Computer auf den Müll, man entsorgt, was man nicht braucht. Auf Friedhöfen ist laute Musik verboten, man spricht unweigerlich gedämpft und flüstert sogar, auch Radfahren ist verpönt. Wer dort wohnt, kann selbst die stärkste Explosion nicht hören, und doch ist man still und achtsam, als würde man stören, und irgendwann fällt man vom Rad und bleibt liegen. Man kennt all die Verkehrsregeln, man fährt häufig vorsichtig, manchmal rasant, man bremst und tritt in die Pedale, man biegt ab, bewältigt Steigungen und spürt danach den Wind im Haar. Man blickt in Schaufenster und richtet die Frisur, entdeckt vielleicht einen Riss in der Scheibe, aber man denkt sich nicht viel dabei, man fährt einfach weiter, immer weiter, und irgendwann zerbricht das Glas. Kein Knall, kein Geräusch, nur eine stumme Explosion, eine Detonation ohne Ton, und dann fällt man vom Rad und bleibt liegen.

In Berlin gab es mal einen Professor, der ist jeden Tag mit dem Rad zur Uni gefahren, auch nachdem er emeritiert war, bis er eines Tages vom Rad fiel. Tot. Herzinfarkt, glaube ich; jedenfalls ist er erst gestorben und dann gefallen.
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Womöglich hatte er bereits auf dem Weg das Ziel erreicht. Und das Verspüren von Fahrtwind im Gesicht ist vielleicht nicht das schlechteste letzte Gefühl des Lebens… Vielen Dank dir fürs Lesen, für deine Worte und für den Professor…
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großartiger text und sehr passend zum januar-gefühl. großes kompliment.
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…und ein mindestens ebenso grosses Dankeschön fürs Lesen und für deine Worte…
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