Die Kälte klirrte vor dem Fenster. Da waren Spuren, von kleinen Kinderfüssen in kurzen Abständen in den Schnee gedrückt. Er hätte geknirscht unter den Schuhen, der Schnee, doch da waren keine Schritte, nicht mehr. Das Kind war längst fortgegangen, und das einzige Knirschen erklang auf der warmen Seite der Scheibe. Das Sofa war groß und hässlich und alt. Auf dem ausgemergelten blauen Stoff zwischen den zahlreichen Rissen und Löchern lag sie. Einen Arm hatte sie über die Augenpartie gelegt, nur die kurzen Haare ragten dahinter hervor. Nicht nur die Frisur, auch ihr Körper wirkte jungenhaft, und einen Moment lang war er irritiert.
Sie waren seit einigen Wochen zusammen, waren ein Paar. Es war gut so, fand er, zumindest in jenen Fragmenten der Zeit. Er wusste nicht, ob sie zu jung oder er zu alt war, doch eigentlich spielte es keine Rolle, sie lachten viel, sie redeten jeweils in die Augen des anderen, und wenn er sagte, dass er sie mochte, war es keine der tückischen Lügen, die sich in den Gelenken einer Beziehung einnisten und alles verhärten können.
Du bist schön, flüsterte er, während er seine Hände unter ihre Bluse und über ihre Haut gleiten ließ. Sie lächelte und schwieg, und er fragte sich, ob er dies auch sagen würde, wenn er keinerlei Gefühle für sie hegen würde. Behutsam ließ er seine Finger über ihren Bauch wandern, hin zu ihren kleinen Brüsten und wieder zurück. Als er langsam die Knöpfe ihrer Jeans öffnete, bemerkte er, wie sie sich in allen Gliedern verkrampfte, die Hüften schienen leicht zu zittern. Er wusste, dass es für sie nicht das erste Mal gewesen wäre, nur das erste Mal mit ihm. Trotzdem beobachtete er, während er ihre Jeans abstreifte und ihre Oberschenkel streichelte, stetig ihr Gesicht, von dem er nur das Kinn, den Mund und die Nase sehen konnte, suchte nach Zeichen des Abwehrens. Die Zeichen blieben aus, auch nachdem er ihr vorsichtig den Slip ausgezogen hatte.
Seine Hände umfassten ihre Beine, seine Lippen lagen verborgen im dichten Haar in ihrem Schoss. Allmählich veränderte sich die Anspannung in ihrem Körper, die Starrheit wich einem heftigen Zucken, bis zum letzten Aufbäumen. Einige Minuten blieben sie beide regungslos, dann bewegte er sich hin zu ihr, legte sich neben sie. Schließlich sagte sie es, dieses Wort. Zuerst war es nur ein Flüstern, dann wiederholte sie es laut, und nachdem sie sich an seinen Körper gedrängt hatte, sprach sie es noch einmal in sein Ohr. Danke.
Nichts zu danken, entgegnete er leise und vermutete den Grund ihrer Dankbarkeit im Umstand, dass sie einfach noch nicht bereit gewesen war, mit ihm zu schlafen, aber eigentlich dachte er sich nicht viel dabei. Doch das Wort hallte nach, auch noch am nächsten Tag. Als sie wieder nebeneinander auf dem großen und hässlichen und alten Sofa saßen, fragte er sie, warum sie sich so nachdrücklich bedankt hatte. Sie zuckte mit den Schultern. Biss auf ihre Unterlippe. Wendete ihren Blick ab. Er sagte, sie müsse nicht erzählen, und ihr Schweigen schwebte wie Nebel im Raum. Dann begann sie zu reden.
Heute vergisst er manchmal ihren Namen, weiß nicht mehr, was sie zusammen unternommen, worüber sie gesprochen hatten, damals, vor vielleicht zehn Jahren. Fast alles entfällt, versickert immer mehr im Sand des Lebens. Geblieben ist das Echo, der Widerhall dieses Wortes. Danke. Geblieben ist das, was sie auf dem großen und hässlichen und alten Sofa auf seine Frage entgegnete. Geblieben ist ein Bild, das er nie gesehen hat, das Bild eines Mannes, der zu seiner Stieftochter ins Kinderzimmer tritt und die Türe hinter sich zusperrt. Geblieben ist die Traurigkeit, als er den Schmerz hinter der Dankbarkeit entdeckte. Die Kälte klirrt vor dem Fenster. Da sind Spuren, von kleinen Kinderfüssen in kurzen Abständen in den Schnee gedrückt. Er würde knirschen unter den Schuhen, der Schnee, doch da sind keine Schritte, nicht mehr.

Diese Geschichte erschien zuerst als Teil des Herrengedeck-Adventskalenders auf herrengedeckhh.wordpress.com.
…und hat mich dort schon sehr bewegt.
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…und auch hier vielen lieben Dank fürs Lesen und für deine Worte…
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