Letzthin sah ich Stavros. Er trug Arbeitskleidung und stieg gerade aus einem Auto und ging zu einem Kiosk und sah noch immer genau gleich aus wie früher. Nun sehen nahezu alle Menschen gleich aus wie früher, wenn dieses Früher fünfzehn Minuten zurückliegt, doch in diesem Fall reichte das Früher rund fünfzehn Jahre in die Vergangenheit. Ich war ziemlich überrascht, dass sich Stavros in dieser Zeit nur marginal verändert hatte, irritiert und zugegebenermaßen auch ein wenig neidisch, denn an mir waren die Jahre nicht so spurlos vorübergegangen wie an ihm.
Dass ich Stavros dort sah, mochte zwar nicht sonderlich sensationell sein – schließlich ist die Welt ein Dorf und diesbezüglich genau jenes Dorf, in dem wir beide aufgewachsen waren. Doch in Anbetracht der Tatsache, dass Stavros vor etwa zwölf Jahren während eines Urlaubs in Griechenland bei einem Autounfall ums Leben gekommen war, schien mir sein Auftauchen zumindest merkwürdig.
Ich erinnere mich an einen Tag in der Grundschule. Stavros saß einige Meter von mir entfernt in der vordersten Reihe, als der Lehrer ihm eine Frage stellte. An den Inhalt dieser Frage kann ich mich nicht mehr entsinnen, wohl aber an den Inhalt der Antwort von Stavros, denn er war identisch mit dem Inhalt seines Magens. Zwar birgt es durchaus ein gewisses komisches Potenzial, wenn einer direkt vor dem Lehrer auf den Tisch kotzt, und die meisten Schüler im Klassenzimmer erkannten dieses Potenzial, was sich in verhaltenem Gelächter äußerte. Mir lag es jedoch fern, über das Missgeschick von Stavros zu lachen; zu sehr war ich damit beschäftigt, meine eigene Galle in Zaum zu halten. Es gelang mir, wenn auch mit großer Mühe. Weniger Erfolg hatte Cornelia, die unmittelbar hinter mir saß. Als sie sich ebenfalls übergab, hielt sie sich die Hand vor den Mund, was aber lediglich zur Folge hatte, dass ihr Erbrochenes zwischen ihren Fingern hindurch und in alle Richtungen spritzte, natürlich auch in meine. Nun lachten alle Kinder, während ich Cornelias Frühstücksrelikte aus meinen Haaren klaubte. Nur Cornelia und Stavros blieben ernst und blickten mich ein wenig ratlos an. Es mochte primär an ihrer Übelkeit gelegen haben, doch ich war ihnen dennoch irgendwie dankbar.
Als ich Stavros aus dem Auto steigen sah, fragte ich mich, ob er sich wohl noch an jenen Tag in der Schule erinnerte. Ich hätte ihn gerne gefragt, doch die Verblüffung über sein noch immer fast jugendliches Aussehen und seine offensichtliche Wiederauferstehung von den Toten ließ mich zögern. Schließlich kam er zurück vom Kiosk, stieg ins Auto und fuhr mit quietschenden Reifen davon. Ich blieb zurück, mit dem unangenehmen Gefühl, dass sich etwas in meinen Haaren verfangen hatte, und mit den wehmütigen Gedanken an die Zeit meiner Kindheit. Damals war ich zwei Tage jünger als Stavros. Heute bin ich sehr viel älter, als er je sein könnte.

„Doch in Anbetracht der Tatsache, dass Stavros vor etwa zwölf Jahren während eines Urlaubs in Griechenland bei einem Autounfall ums Leben gekommen war, schien mir sein Auftauchen zumindest merkwürdig.“
Was für ein Satz! Was für eine Geschichte.
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Was für ein Kommentar! Vielen lieben Dank!
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sie ist wunderschön mysteriös *lächel*, Deine Geschichte vom wieder auferstandenen Stavros und der eklig seltsamen Erinnerung, die er in Deinen Kopf zaubert, aber die Brocken von damals, die findest Du nicht mehr, auch nach langem Suchen nicht, denn wenigstens die werden vergangen und gründlich weggespült sein.
Mit den Gedanken, die sich festkrallen, an Orten, die Dir ewig ein Geheimnis bleiben, mit denen ist es anders …ganz anders…
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Ja, die Gedanken, die Erinnerungen, die bleiben. Ich weiss noch, wie ich als erstes an jenen Zwischenfall im Klassenzimmer dachte, als ich von Stavros‘ Unfall erfuhr… Vielen herzlichen Dank für deine Worte, liebe Bruni…
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