Sie sitzt am Fenster, seit Stunden, seit Jahrzehnten. Sie saß dort schon immer, jeden Tag ihres Lebens, also auch heute, denn heute ist nichts anderes als ein Tag ihres Lebens. Ein neuer Tag, könnte man meinen, doch eigentlich ist nur das Datum neu, und auf der Straße vor dem Haus wird gebaut. Da steht ein Bagger, er ist gelb und groß und stand gestern nicht da. Auf dem Bagger sitzt ein Mann in Arbeitsbekleidung und schweren Schuhen. Er raucht eine Zigarette und lässt seinen Blick ein wenig gelangweilt über die Häuserfassaden gleiten. Als er sie sieht, verharrt er, starrt sie an. Sie realisiert, dass sie nur einen Slip trägt und ansonsten nackt ist, und in einem ersten Reflex möchte sie sich vom Fenster entfernen. Doch sie bleibt, beißt kurz auf ihre Unterlippe und senkt ihren Kopf. Als sie wieder aufsieht, blickt der Mann auf dem Bagger noch immer zu ihr hoch. Sie schauen sich an, minutenlang, ohne sich zu rühren. Irgendwann tritt ein Kollege zum Mann auf dem Bagger, spricht ihn an, und bald darauf sind sechs oder sieben Arbeiter damit beschäftigt, den Asphalt aufzureißen.
Sie steht auf, holt sich einen Estragon-Tee sowie eine Tafel Schokolade und setzt sich wieder ans Fenster. Die Öle im Estragon sollen eine appetitanregende Wirkung aufweisen, doch bei ihr scheint dieser Effekt auszubleiben. Sie schiebt die Schokolade in kleinen Stücken in den Mund, lustlos und mechanisch wie eine Fabrikarbeiterin am Fließband, eine zähe Routine, wie der Arm des gelben Baggers, der sich vor dem Fenster hin und her dreht. Der Baggerführer schaut regelmäßig hoch zu ihr, jedoch ohne Regung im Gesicht. Irgendwann springt ihre Katze zu ihr auf das Fenstersims, und irgendwann springt sie wieder hinunter. Irgendwann machen die Straßenarbeiter Mittagspause, und irgendwann machen sie weiter. Irgendwann schwindet das Tageslicht, und irgendwann verlassen die Männer die Baustelle, gehen nach Hause oder in die Kneipe. Nur der Mann auf dem Bagger bleibt sitzen, raucht eine Zigarette nach der anderen und starrt sie an. Sie könnte winken, könnte lächeln, könnte ihre Beine leicht bewegen, hin und her, ein sanftes Wippen. Sie könnte ihr Finger über die Haut gleiten lassen, arglos oder innig, könnte Bauch und Brüste streicheln, könnte ihre Hand zwischen die Beine schieben. Sie könnte aufstehen, könnte sich unter die Dusche stellen oder auf den Boden legen, könnte ein Buch lesen oder fernsehen. Doch sie bleibt regungslos sitzen, dort am Fenster. Als es dunkel wird, schaltet sie die kleine Lampe neben dem Fenster ein. Der Mann auf dem Bagger nickt kurz, ansonsten bewegt er sich nicht. Sie schauen sich an, ohne sich zu rühren. Dann, nach Stunden oder Jahrzehnten, steht er auf, steigt vom Bagger und schlurft in seinen schweren Schuhen davon. Sie löscht das Licht und geht zu Bett.
An nächsten Tag sitzt sie wieder am Fenster. Sie saß dort schon immer, jeden Tag ihres Lebens, also auch heute, und heute ist ein neuer Tag, könnte man meinen, doch eigentlich ist nur das Datum neu. Auf der Straße vor dem Haus wird gebaut, da steht ein Bagger, er ist gelb und groß und stand gestern schon da. Auf dem Bagger sitzt ein Mann in Arbeitsbekleidung und schweren Schuhen. Er raucht eine Zigarette und lässt seinen Blick ein wenig gelangweilt über die Häuserfassaden gleiten. Als er sie sieht, verharrt er, starrt sie an. Sie realisiert, dass es nicht der gleiche Mann ist wie am Tag zuvor. Er ist blond, der andere war eher dunkelhaarig, aber die Schuhe sind die gleichen. Sie trägt nur einen Slip, ist ansonsten nackt, und in einem ersten Reflex möchte sie sich vom Fenster entfernen. Doch sie bleibt, beißt kurz auf ihre Unterlippe und senkt ihren Kopf. Als sie wieder aufsieht, blickt der Mann auf dem Bagger noch immer zu ihr hoch. Sie schauen sich an, minutenlang, ohne sich zu rühren. Irgendwann tritt ein Kollege zum Mann auf dem Bagger, spricht ihn an, und bald darauf sind sechs oder sieben Arbeiter damit beschäftigt, den Asphalt aufzureißen.

ach so *lächel*
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hm, immer das gleiche „Lied“? Das gleiche Muster? Tag ein und Tag aus?
Nur die Menschen sind andere?
Wann kommt der, der das Muster durchbricht? Der zwar stutzt, einen Blick riskiert, aber dann sofort anderes im Sinn hat? Du meinst, das gäbe es kaum mal?
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Liebe Bruni, vielen Dank für deine Gedanken…
Doch doch, das gibt’s sicher und oft, das Durchbrechen des Musters… Bei der Protagonistin geht es vielleicht eher um das Warten als stetiger, sich wiederholender Prozess, ohne eigentlich zu wissen, worauf man wartet… Oder so…
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