Dies ist die Geschichte eines Menschen wie du und ich. Ian wuchs in Wales auf, absolvierte die High School, studierte Grafikdesign und wurde bei seinem erfolgreichen Abschluss für seine ausgezeichneten Leistungen geehrt. Er liebte Rockmusik, und nachdem er bereits in verschiedenen Formationen aktiv gewesen war, gründete er 1997 mit einigen Freunden eine neue Band. Von ihren insgesamt fünf Alben schafften es deren vier in die Top Ten der britischen Albumcharts, und 2006 gelang mit Liberation Transmission sogar der Sprung an die Spitze. Zwar sind Verkaufszahlen kein Gradmesser für Qualität, und über gute oder schlechte Musik entscheidet stets das subjektive Empfinden, doch grundsätzlich dürfte man wohl von einer erfolgreichen Karriere sprechen, mit vielen Höhepunkten, zahlreichen meist jugendlichen Fans und ein bisschen mehr als nur den von Andy Warhol geprägten fünfzehn Minuten Ruhm. Ian, dieser Mensch wie du und ich, hatte es geschafft. Und seine Geschichte, sie ist eigentlich eine schöne Geschichte.
2008 wurde er Botschafter der Kidney Wales Foundation, die sich unter anderem für kranke Kinder engagiert, die auf eine Nierenspende angewiesen sind. Ian und seine Band organisierten ein Benefizkonzert, um Geld für die Organisation zu sammeln und die Öffentlichkeit auf das Thema Nierenspende aufmerksam zu machen. Außerdem besuchte Ian das University Hospital of Wales in Cardiff, wo betroffene Kinder behandelt werden. «I had a great time meeting all the kids at the hospital», meinte er anschließend. Ian, dieser Mensch wie du und ich, zeigt soziale Verantwortung und selbstloses Engagement, verbringt eine tolle Zeit mit den Kindern im Spital – auch das klingt eigentlich nach einer schönen Geschichte.
Kürzlich war Ian, dieser Mensch wie du und ich, erneut in den Medien präsent. Nachdem er entsprechende Vorwürfe bisher stets bestritten und sie als Verschwörung gegen seine Person bezeichnet hatte, gab er nun zu, ein entschlossener und überzeugter Pädophiler zu sein. Der Ausdruck «entschlossener und überzeugter Pädophiler» klingt furchtbar. Doch vor allem ist er ein furchtbarer Euphemismus. Und alles andere als eine schöne Geschichte.
«Sexuelle Ausbeutung der schlimmsten Art – so formuliert es ein Ermittler. Sie haben Beweise wie ein Video, das zeigt, wie ein Mann und eine Frau – vermutlich die Mutter – einen Säugling sexuell missbrauchen. Nun hat der betroffene Mann, der ehemalige Rockstar und Sänger der mittlerweile aufgelösten walisischen Band Lostprophets, Ian Watkins, zugegeben, Kinder sexuell missbraucht – und versucht zu haben, einen Säugling zu vergewaltigen (…) Das Beweismaterial zeige neben mitgefilmten Vergewaltigungen auch intime Fotos von Kindern. In einigen Fällen seien die Babys von den Müttern selbst an Watkins ausgehändigt worden. Mitangeklagt sind zwei Frauen, die die Kinder ebenfalls missbraucht haben sollen. Bereits vor fünf Jahren hat sich laut Medienberichten eine Frau erfolglos an die Behörden gewandt, mit dem Verdacht, dass Watkins Sex mit Kindern plane.» Die Presse, 28.11.2013
Ursprünglich war Ian Watkins nach Sichtung der Beweisvideos der tatsächlichen Vergewaltigung eines Babys in zwei Fällen angeklagt worden. Er bestritt aber, dass der beabsichtigte Sex wirklich stattgefunden habe. Das Gericht akzeptierte eine entsprechende Änderung der Anklage, auch aus dem Grund, um den Geschworenen das Anschauen des besagten Videos zu ersparen.
Auf den Newsportalen im Internet finden sich weitere und detaillierte Beschreibungen der Dinge, die Ian, dieser Mensch wie du und ich, offenbar getan hat. Nach einer ersten Sprachlosigkeit finden zahlreiche Kommentatoren wieder Worte – mitunter ziemlich deutliche. «Schwanz abschneiden», fordern die einen. «Ich bin eigentlich gegen die Todesstrafe, aber…», meinen die anderen. Einige Fans geben an, dass sie ihre Lostprophets-CDs soeben verbrannt haben. Andere finden die Songs noch immer klasse und hören sie auch weiterhin, man müsse den Künstler und die Privatperson schließlich losgelöst voneinander betrachten. Wieder andere vermuten, dass die Musik in Zukunft vielleicht einen schalen Beigeschmack haben könnte.
Der Schuldspruch dürfte voraussichtlich zum Jahresende 2013 fallen. Dann wird das Gericht auf der Basis von Recht und Gesetz die Frage beantworten, wie man Ian, diesen Menschen wie du und ich, zu bestrafen hat. Es ist nicht die einzige Frage, die sich in dieser Geschichte stellt. Es ist nicht die einzige Antwort, die möglich ist, und alle werden falsch sein, denn eine richtige Antwort gibt es nicht. Und manchmal sind da wohl überhaupt keine Antworten. Manchmal sind da einfach die Geschichten von Menschen wie du und ich. Die Wut, die Ohnmacht und die Ratlosigkeit. Und die stumme Leere nach den Fragezeichen.
mit einem dummen Gefühl habe ich den GefälltmirButton angeklickt, denn es gefällt mir natürlich nicht, was ich lese und mein Anklicken bedeutet auch nur, daß ich es gut finde, daß Du darüber schreibst.
Nicht vorstellbar ist das, was ich da lese. Ich denke, Du hast es aus seriösen Medien, ich habe nichts davon selbst irgendwo lesen können, nur jetzt hier bei Dir.
Wenn diese Anschuldigungen richtig sind, dann würde ich in diesem Falle auch den Künstler bestrafen, nicht nur den Menschen, denn über die Kunst wird er sich auch definieren und wie sehr wird es ihn treffen, wenn seine gesamte Person, einschl. des Künstlers, nun ignoriert wird. Welche Strafe richtig ist, ist schon die falsche Frage.
Warum können solche Wünsche, solche schockierenden Triebe entstehen. Was ist da falsch im Menschen angelegt, wo schaltet das Gehirn Zerstörung ein, um sich selbst zu befriedigen…
Hilflos steht der Laie und ein solcher bin ich in hohem Maße.
Wie gut, daß Du darüber schreibst und wie seltsam, daß niemand hier kommentiert. Das macht mich eigentlich auch sprachlos…
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Erst einmal vielen Dank für deine Gedanken und deine Worte. Obwohl, es wäre eigentlich schön, wenn man sich über derartige Dinge keine Gedanken machen müsste. Aber das ginge nur, wenn es sie nicht gäbe. Doch es gibt sie. Und wohl häufiger, als die Berichterstattungen in den Medien es annehmen lassen. Und selbst von diesen gibt es viele, wie das Spiegel-Dossier zeigt.
http://www.spiegel.de/thema/kindesmissbrauch/
In diesem Fall sind die Anschuldigungen jedenfalls soweit richtig, dass der Beschuldigte seine Taten zugegeben hat, zumindest jene, derer er beschuldigt wird. Wahrscheinlich bleibt auch hier, wie so oft, sehr vieles im schrecklichen Dunkeln.
Die Frage nach dem Warum, sie lässt sich wohl ebenso wenig beantworten wie all die anderen Fragen. Ja, es macht sprachlos. Und doch ist es vielleicht wichtig, darüber zu sprechen. Auch wenn man nicht weiß, was man dazu sagen soll.
Nochmals herzlichen Dank, liebe Bruni…
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