Manchmal vergisst er tatsächlich, wie gut er ist. Gut, natürlich ist er nicht immer gut, aber wenn er gut ist, dann so richtig. Dann rettet er all die armen Robbenbabys und gestrandeten Finnwale, und wenn ein Rotkehlchenküken aus dem Nest fällt, dann päppelt er es auf, richtet eine hübsche Kartonschachtel ein und füttert es und bringt ihm bei, mit seinen kleinen Füßchen lustige Bleistiftzeichnungen zu machen, und wenn es dann bereit ist, in die Freiheit zu fliegen, dann ist er traurig und sagt gleichzeitig, dass es das einzig Richtige sei, was man tun könne, man dürfe einen Vogel nicht einsperren, und dass dieses Rotkehlchenküken da draußen kaum überleben wird, weiß er zwar auch, aber er will sich dazu nicht äußern, das wäre dann doch irgendwie traurig und muss wirklich nicht sein. Tatsache ist, dass er das Vögelchen gerettet hat, und das ist gut, also ist er gut. Und wenn er gut ist, dann ist er auch gut im Bett, so richtig leidenschaftlich und herzhaft und authentisch, und er gibt sich dem Gefühl voll und ganz hin, ist dabei aber keinesfalls egoistisch, und wenn er eigentlich schon fertig und müde ist, bleibt er doch noch wach, streichelt ihre Wangen oder Backen, bis sie sagt, es sei gut jetzt, und dann erzählt er vom Rotkehlchenküken und wie er es gerettet hat und wartet darauf, bis sie ihm sagt, wie gut er sei, um dann zu erwidern, dass sie es doch gut sein lassen soll, so gut sei er dann doch nicht. Während sie leise wimmert und weint, ganz offensichtlich ergriffen und erfüllt von Ehrfurcht und Bewunderung, lächelt er in die Dunkelheit und räuspert sich. Schlaf gut, sagt er zu ihr, und sie murmelt etwas zurück, doch er versteht es nicht ganz, kann höchstens annehmen, dass sie ihm ebenfalls eine gute Nachtruhe gewünscht hat. Natürlich schläft er gut, denn gute Menschen haben gute Gründe, um gut schlafen zu können, und dass er ein Rotkehlchenküken gerettet hat, ist von all den guten Gründen einer der besseren. Am nächsten Morgen erwacht er, und draußen vor dem Fenster zwitschern tausend Rotkehlchen aus tausend roten Kehlen die Titelmelodie von den Golden Girls, ein tausendfaches Thank you for being a friend, und er fängt eine kleine Träne auf, die soeben seinem Augenwinkel entwischt ist. Er ist gerührt, nicht wegen der Vögel, sondern weil er wieder einmal feststellt, wie gut er ist. Dann geht er ins Badezimmer und blickt in den Spiegel und ist noch gerührter als zuvor, weil er sein gerührtes Gesicht erblickt und auch den Heiligenschein über seinem Kopf, der in seiner heiligen Helligkeit die Leuchtstoffröhre über dem Spiegelschrank bei weitem überstrahlt. Zwei Stunden steht er da, betrachtet sich selbst und kann kaum fassen, wie gut er aussieht, wie unbeschreiblich schön sich die einzelnen Teile seines Gesichtes zu einem anatomischen Gesamtkunstwerk formieren, und irgendwann hört er ein Klopfen an der Tür und dann ihre Stimme, die ihm mitteilt, dass es nun allmählich gut sei, er sehe ganz bestimmt sehr gut aus und sie müsse aufs Klo. Er antwortet mit einem beiläufigen Jaja und bewundert weiterhin sein Antlitz, doch als sie nach einer Viertelstunde ein weiteres Mal klopft und noch mehr Dringlichkeit in ihre Stimme legt, ist seine gute Laune dahin. Er kann es nicht länger gut sein lassen, irgendwann ist es des Guten zu viel. Nach einem kurzen Grollen reißt er die Badezimmertür auf, lässt seinen Augen giftige Pfeile entweichen, schreit in ihr Gesicht und schickt schließlich seine Faust hinterher, bis die Nase bricht. Sie krümmt sich und fällt zu Boden, etwas arg theatralisch, wie er findet. Sie wimmert und weint, und er tritt ihr in die Rippen. Sie wimmert und weint noch lauter, und er sagt, es sei gut jetzt, sie sei ja selbst schuld, sie habe es ja regelrecht herausgefordert. Was ihr eigentlich einfalle, bellt er, eben noch habe er sich so gut gefühlt, und dann das. Wütend stürmt er aus der Wohnung und aus dem Haus, hinaus auf die Straße. Er ist erst wenige Schritte gegangen, da flattern ihm einige Rotkehlchenküken vor seine Füße und stimmen erneut die Titelmelodie von den Golden Girls an. Mit ihren roten Kehlen trällern sie ein Thank you for being a, doch noch bevor sie zum friend gelangen, werden sie von seinen schweren Stiefeln zertreten und plattgemacht. Während er seine Sohle von Gedärm und Federn befreit, schreit er die kleinen Rotkehlchenkükenleichen an; dies seien gute Stiefel und jetzt seien sie schmutzig, verdammt noch mal. Er rennt los, rennt durch die Gassen, rennt durch Fußgängerzonen und Einkaufsgeschäfte, und immer wieder bleibt er stehen, um auf irgendwelche Menschen einzuprügeln, die gerade zugegen sind. Er bricht Kiefer und Nasen, lässt Haut und Gewebe platzen und Blutströme fließen. Er wirft Scheiben ein und Mülleimer um, er brüllt und keift. Der Tag, er hat so gut begonnen, aber jetzt ist nichts mehr gut, nur er selbst, er ist das einzig Gute in all der Scheiße, und die Scheiße, sie ist so groß und mächtig, dass er sich hin und wieder vergisst, ja, manchmal vergisst er tatsächlich, wie gut er ist.

wie gut hast Du ihn beschrieben, den Menschen mit den widersprüchlichen Seiten, mit dem Dunkel und Hell, mit Bosheit und Güte, der Böse mit den guten Seiten, der Gute mit den bösen Seiten
Krass hast Du ihn beschrieben, denn wie krass kann er nur sein, alles ist ihm zuzutrauen, Edles und Gemeines.
Alles schlummert in uns…
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Danke, liebe Bruni, für deine Gedanken und deine Worte… Ja, es ist ihm wohl alles zuzutrauen. Aber vielleicht gelingt es ja einigen von uns, das Böse in uns schlummern zu lassen und nicht zu wecken…
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