Es ist dunkel in den Ecken. Sie müsste ganz nah herangehen, um etwas zu erkennen, doch sie tut es nicht. Sie weiß, was dort ist. Dort ist das, was sie verloren hat, aber sie würde es nicht wiederfinden können, ganz egal, wie sehr sie suchen würde. Dort ist das, was fehlt, begraben unter dem Staub der Zeit. Sie könnte ihn aufwirbeln, den Staub, doch er würde nicht tanzen und glitzern im Sonnenlicht. Wahrscheinlich würde er nicht einmal schweben. Vielleicht zählen sie ebenfalls zu den Worten der Vergangenheit, das Tanzen und das Glitzern und das Schweben. Vielleicht liegen auch sie dort in den Ecken.
Irgendwann tauchte die Frage auf. Kann sie vergeben? Ihre Antwort war ein Schweigen, einmal mehr. Es ist womöglich die einzige Antwort, die sie kennt, die einzige Antwort, die keine Lüge in sich trägt. Manchmal klingt Vergebung wie eine große Illusion, manchmal wie ein Hohn, meistens aber klingt sie überhaupt nicht, sie bleibt tonlos und starr, ein abstraktes Gebilde aus Buchstaben, die in dieser Reihenfolge keinen Sinn ergeben. Ergeben, sich ergeben, das kann sie, sie tut es, hat es getan, immer wieder. Doch wenn sie ein V davor stellt, zerfällt das Wort, zersetzt sich die Sprache. Was bleibt, ist das Schweigen. Und der Staub in den Ecken.
Vielleicht würde sie gerne vergeben können. Als sie ein Kind war, versuchte sie, einen Holzspieß zu schnitzen, und schnitt sich mit dem Taschenmesser in den Zeigefinger. Er blutete stark, sie weinte heftig, und einen Moment lang wankten die Bäume im Wald, das Licht schwand. Doch bereits am nächsten Tag war der Schnitt zu einer verkrusteten Linie geworden, und bald darauf war die Linie verschwunden, die Haut vollkommen verheilt, das kleine Missgeschick vergeben und vergessen. Unter der Haut gibt es kein Vergessen, keine Heilung, keine Vergebung. Es gibt nur die dunklen Ecken und den Staub, der sich in ihnen sammelt.
Sie würde gerne wieder tanzen und glitzern und schweben. Früher war es einfach, alles schien so leicht, auch sie selbst. Heute ist ihr Körper wahrscheinlich noch leichter als damals, doch gleichzeitig scheint sie schwerer als je zuvor. Sogar wenn sie steht oder kniet oder sitzt, verliert sie immer wieder ihr Gleichgewicht. Dann fällt sie hin, und Staub wirbelt auf. Ein leiser Schmerz pocht in ihrem Zeigefinger, die Wände wanken, das Licht schwindet. In ihren Ohren rauscht das Blut, und irgendwo hinter dem Rauschen taucht manchmal die Frage auf. Kann sie vergeben? Sie schweigt. Und wartet, bis der Staub sich wieder setzt.

die dunklen Ecken der Seele, das, was unter dem Staub liegt, vergraben und doch nicht vergessen.
Wie kann es noch glitzern und funkeln, wenn Schmerz alles ausfüllt, wenn das Vergeben zu schwer ist und die
Gedanken sich nicht mehr dehnen und strecken können, unbeweglich wurden, traurig über das eigene Dunkel…
Seelische Wunden liegen tief und heilen oftmals nie.
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… es sind die allerschlimmsten und unerträglichsten aller wunden …
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…und eine Wundheilsalbe gibt es nicht…
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lindernde Seelenverbände gibt es manchmal… Sie müssen aber immer wieder erneuert werden…sehr behutsam…
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Da dürftest du Recht haben…
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Vielen Dank für deine Worte, liebe Bruni… Ein traurigschönes Bild, die unbeweglichen Gedanken, die sich nicht mehr dehnen, nicht mehr strecken können…
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