Als sie damals am frühen Morgen im Badezimmer stand und die Frau im Spiegel auf ihre Frage, wie sie sich fühle, mit dem Wort Super antwortete, hatte sie es noch gar nicht bemerkt. Doch dann wollte sie einen ziemlich schweren Tisch in ihrer Wohnung ein wenig zur Seite rücken und warf ihn stattdessen ungewollt an die Wand. Dass er dabei in dreiundzwanzig Teile zersplitterte, hatte sie in Sekundenbruchteilen registriert. Irgendetwas war anders. Merkwürdig, aber nicht schlecht. Ohne Anstrengung und nur mit einer Hand hob sie die mächtige Eichenholzkommode hoch und hielt sie mit ausgestrecktem Arm von sich weg. Mehrere Minuten lang verharrte sie regungslos in ihrem Wohnzimmer, seltsam erschüttert von ihren neuen Fähigkeiten. Dann stellte sie die Kommode wieder an ihren Platz. Super, dachte sie.
Zuerst experimentierte sie mit ihren Kräften, forschte nach Handlungen, zu welchen sie neuerdings fähig war. Sie erkletterte Fassaden, warf Felsbrocken in fremde Gärten und schob das Auto ihres Ex-Freundes von der Parkgarage bis zu einem Schrottplatz. Natürlich war dies alles durchaus unterhaltsam und vermittelte ihr ein eigentümlich berauschendes Gefühl, doch bald mochte sie sich nicht damit begnügen. Sie wollte Gutes tun. Ihre Eltern hatten ihr dieses Bestreben wohl in die Blutbahn geschleust, und bis anhin hatte sie auch danach gehandelt, im Rahmen ihrer Möglichkeiten. Diese Möglichkeiten wiederum waren nun ins Unermessliche gewachsen. Super, dachte sie.
Sie nahm sich vor, die Welt zu verbessern. Eine zweifellos ambitionierte Aufgabe, weshalb sie beschloss, zuerst in kleineren Dimensionen zu denken und zu handeln. In der klassischen Tradition der Superhelden aus den Comicheften ihrer Kindheit begann sie, das Verbrechen in der unmittelbaren Umgebung zu bekämpfen. Sie ergriff Einbrecher auf frischer Tat, verhinderte Vergewaltigungen und erstickte kriminelle Bewegungen im Keim. Die Medien spekulierten über die unbekannte Person, die auf den Straßen für Ordnung sorgte, die Stadtbewohner jubelten ihr zu und die Kinder erkannten in ihr ein Vorbild. Super, dachte sie.
Immer wieder tauchten jedoch Zweifel auf, und zunehmend bekundete sie eine gewisse Mühe damit, die Begriffe Recht, Gerechtigkeit und Richtigkeit richtig einzuordnen. Zwar ließ sich das Richtige vom Falschen häufig klar unterscheiden, doch manchmal lösten sich die Grenzen auf, oder die Situation entzog sich einer derartigen Bewertung gänzlich. Einmal rettete sie einen Mann, der gerade von einem anderen Mann heftig verprügelt wurde, und brach dem Angreifer dabei die Nase. Der Angegriffene entfernte sich rasch und ohne Wort des Dankes vom Schauplatz des Geschehens. Während er sich stetig das Blut von der Oberlippe leckte, erklärte der Angreifer, dass seine Tochter in der Vergangenheit mehrfach vom Angegriffenen missbraucht worden war, von der Justiz jedoch nur eine lapidare Bewährungsstrafe erhielt, was ihn als Vater mit einem tauben Gefühl und einer rasenden Wut erfüllte, die er irgendwann nicht mehr unterdrücken konnte. Sie nickte, murmelte eine Entschuldigung und verschwand auf schnellstem Weg, um zu Hause eine ganze Flasche Whisky zu leeren. Später lag sie im Bett, während die Welt sich in die falsche Richtung drehte. Super, dachte sie.
Die Ambivalenz zeigte sich immer wieder, erst recht, als sie begann, ihr Wirkungsfeld auszudehnen und in größeren Maßstäben zu agieren. Als eine Terroristengruppe von einer anderen Terroristengruppe eine Rakete entwenden wollte, konnte sie ebenso wenig einen richtigen Weg erkennen wie in der Vermittlung in einem bewaffneten Konflikt, der eigentlich nur dadurch entstanden war, weil die beiden Parteien ihren Glauben unterschiedlich auslegten. Nachdem sie immer wieder gehört hatte, dass die Welt ohne Politiker eine bessere wäre, schritt sie zur Tat und sperrte alle Politiker eines kleinen Landes in ein stillgelegtes Gefängnis. Was als Versuch geplant war, um danach auch andernorts so zu handeln, entpuppte sich wenig überraschend als Katastrophe, denn in kürzester Zeit versank das kleine Land in zügellosem Chaos und einem erbitterten Bürgerkrieg. Ihr immer häufiger werdendes Unvermögen, für Recht und Gerechtigkeit zu sorgen und sich richtig zu verhalten, ließ sie verzweifeln. Super, dachte sie.
Schließlich sah sie nur einen einzigen Ausweg, um ihr Ziel, die Welt zu verbessern, tatsächlich zu erreichen. Alles Böse sollte ausgemerzt werden, jeder kriminelle und gewalttätige Mensch ausradiert. Was darauf folgte, fühlte sich sehr unangenehm an. Sie haderte mit ihrem Verhalten, fühlte sich nicht befugt, über andere zu richten. Dennoch tat sie es; weil sie es konnte und weil es die einzige Möglichkeit schien, das Gute obsiegen zu lassen. Irgendwann stand sie im Haus eines Mannes, der für zahlreiche kriminelle Machenschaften verantwortlich gemacht wurde und nun leblos auf dem Parkettboden aus Akazienholz lag. Sie ging aus dem Raum, als plötzlich ein kleiner Junge vor ihr auftauchte. Er fragte, wer sie denn sei, und sie antwortete zögerlich. Dann fragte er, was sie hier mache und ob sie seinen Vater besuche. Sie biss auf ihre Unterlippe und schwieg. Dann schob sie den kleinen Jungen zur Seite und rannte nach draußen. Super, dachte sie.
Als sie am nächsten Morgen im Badezimmer stand und die Frau im Spiegel betrachtete, bemerkte sie ein Glitzern in ihren Augenwinkeln. Sie wandte sich rasch ab, ging zur Tür und blickte noch einmal zurück. Die Frau stand immer noch dort, regungslos und müde. Das Glitzern breitete sich langsam über ihre Wangen aus und fiel in kleinen Tropfen zu Boden. Super, dachte sie.

eine sehr gute Geschichte, lieber Disputnik. Das Gute und Richtige vom Falschen und Bösen zu unterscheiden ist schwierig u. wie gut hast Du es herausgefiltert.
Nun hadert Superwomen mit sich selbst und mit der Kraft, die ihr verliehen wurde und weiß nicht weiter…, denn packt sie Gutes an, kann es sich zum Bösen kehren…
Eine Lösung fällt ihr keine an, vielleicht, weil es keine gibt und ihr Weinen ist die pure Hilflosigkeit, ein Weinen über die Welt und sich
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Vielen herzlichen Dank, liebe Bruni, für deine Gedanken und Worte… Ja, die Hilflosigkeit ist wohl oftmals stärker als jede Superkraft, die Ambivalenz entwaffnend. Ich jedenfalls würde mich wohl vor der Verantwortung drücken und ein allfälliges Superheldenkostüm schnell im Schrank verstauen…
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