Der Kopf war groß. Zwar waren seine Ausmaße keineswegs grotesk, die Dimensionen sprengten nicht alle Grenzen. Einige aber schon, darunter die Grenzen der Normalität in den Augen der anderen Kinder. Sie nannten ihn Wasserkopf oder Riesenkopf, vielleicht waren auch andere Nettigkeiten zu hören, doch ich sah davon ab, in den Kanon einzustimmen. Mir schien der Kopf ganz in Ordnung zu sein, eigentlich sogar wunderbar, denn er gehörte Damian, und Damian war mein bester Freund.
Wir waren Nachbarn in einem Vierfamilienhaus, wohnten nur ein Stockwerk voneinander getrennt und verbrachten jede freie Minute zusammen. Gemeinsam bildeten wir einen Geheimbund, und als einzige Mitglieder fühlten wir uns wie die unangefochtenen Könige der Welt, unserer Welt. Wir schrieben unsere Initialen an Wände, ritzten sie in Holzzäune, machten einen Kreis um die Buchstaben, und jedes Mal, wenn wir an einer solchen Inschrift vorübergingen, sahen wir uns mit verschwörerischer Miene an.
Eines Tages, wir waren wohl etwa zehn Jahre alt, saßen wir in seinem Zimmer. Irgendwann musste Damian zur Toilette, und bevor er den Raum verließ, bat er mich, auf keinen Fall im Tagebuch zu lesen, das auf seinem kleinen Schreibtisch lag. Ich versprach, es nicht anzurühren, und vielleicht wollte ich mich auch tatsächlich daran halten. Doch die Neugier eines Kindes ist eine mächtige Kraft. Ich blätterte ein wenig, las ein paar Zeilen, bis ich zur letzten vollgeschriebenen Seite gelangte. Dort beschrieb Damian einen kleinen Zwischenfall in der Schule. Er hatte dringend pinkeln müssen, doch irgendwie gelang es ihm nicht, die Aufmerksamkeit des Lehrers auf sich zu ziehen, um nach Erlaubnis zu fragen, zur Toilette zu gehen, ebenso wenig wagte er es, einfach aus dem Klassenzimmer zu stürmen. Schließlich hielt er es nicht mehr aus. Außerordentlich präzise berichteten die Worte davon, wie Damian während der Schulstunde in die Hose machte und wie peinlich es ihm war. Ich fand es nicht sonderlich peinlich. Das Brechen meines Versprechens hingegen schon. Schnell klappte ich das Tagebuch zu, legte es an seinen angestammten Platz zurück und setzte mich wieder aufs Bett. Damian erzählte ich nichts.
Vielleicht zwei Jahre später wechselten wir beide in eine höhere Schulstufe, blieben aber in der gleichen Klasse. Damian freundete sich mit Serge an, einem hageren Zahnarztsohn mit unzähligen kleinen Locken auf seinem winzigen Kopf und einem dümmlichen Grinsen im Gesicht. Ich konnte Serge nicht ausstehen.
Bald darauf mussten wir eine Prüfung in Biologie schreiben. Ich war ziemlich schlecht in Biologie, außerdem hatte ich keine Minute investiert, um mich auf die Prüfung vorzubereiten. Als das Blatt vor mir lag, sah ich schnell ein, dass zweifellos eine miserable Note daraus resultieren würde, doch mein eigentliches Problem war ein anderes. Ich musste dringend pinkeln. Sehr dringend. Doch aus unerfindlichen Gründen, womöglich aus Scham, mein leeres Prüfungsblatt zu offenbaren, wagte ich es nicht, den Lehrer um Erlaubnis zu fragen, zur Toilette zu gehen. Schließlich hielt ich es nicht mehr aus.
Ich trug an jenem Tag eine dunkle Jeans. Wenn man während der Schulstunde in die Hose macht, sind dunkle Jeans ein Segen. Ich bin ziemlich sicher, dass damals niemand mein Missgeschick bemerkte, höchstens meine Mutter, der vielleicht beim Waschen ein seltsamer Geruch in die Nase gestiegen war. Einen Moment lang dachte ich daran, Damian davon zu erzählen. Doch irgendetwas hielt mich davon ab.

gute Vorübung schon mal fürs Alter *lächel*
Oder …
inmitten einer Prüfung kann mann auch schon mal (aus Versehen) in die dunkle Jeans pinkeln *hehe*
feine Geschichte…
LG vom Lu
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Vielen Dank, lieber Finbar, und ich hoffe doch, dass wenn im Alter dann die Kontinenz abnimmt, es zumindest keine Biologieprüfungen mehr zu schreiben gilt… Liebe Grüsse zurück…
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Mißgeschicke, die jeden treffen können… Schade, daß er es nicht erzählen konnte, den Freund hätts gefreut…
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Ich weiss nicht, ob es ihn gefreut hätte, vielleicht wären dann auch bei ihm unangenehme Erinnerungen zurückgekehrt… Vielen Dank fürs Lesen und für deine Worte, liebe Bruni…
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Du hattest aber vorher in der Schulkantine nicht womöglich drei Liter subventionierter Schokomilch getrunken?
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Wir hatten gar keine Schulkantine. Und nach drei Litern magischer Schokomilch würde man selbst in Biologie Bestnoten erzielen.
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