«Ich möchte Gustav Wegert sein. Oder August Landmesser.»
«Wer sind Gustav Wegert und August Landmesser?»
«Sie sind beide tot.»
«Du möchtest tot sein?»
«Nein.»
«Aber?»
«Einer von beiden ließ den Arm unten.»
«Aha. Wo?»
«Bei den Nazis.»
«Bei den Nazis?»
«Ja. Es gibt da dieses Foto, etwa aus dem Jahr 1936. Darauf sind Werftarbeiter zu sehen. Es ging wohl um die Einweihung eines Marineschiffes, jedenfalls war Adolf Hitler zu Besuch. Irgendwann, beim Höhepunkt der Feierlichkeiten, wurde die Nationalhymne gespielt, und alle Arbeiter hoben den Arm zum deutschen Gruß. Nur einer nicht.»
«Gustav Wegert?»
«Ja. Oder August Landmesser. Es ist nicht sicher, welcher der beiden es war.»
«Und warum möchtest du jener Mann sein?»
«Er hat sich widersetzt. Hat sich geweigert, mit der Masse im Strom zu schwimmen. Er hat ein Zeichen gesetzt.»
«Wogegen willst du dich auflehnen?»
«Ich will mich gar nicht zwingend auflehnen. Ich möchte nur etwas tun, das Eindruck hinterlässt.»
«Aber das tust du doch.»
«Ach ja? Wie denn?»
«Überall, immer wieder. Zum Beispiel bei deinen Kindern.»
«So meinte ich das nicht. Außerdem sagte mein Sohn kürzlich, ich dürfe nicht mehr zu Hause wohnen.»
«Er ist drei Jahre alt.»
«Ich weiß. Aber man sagt doch, Kinder seien so ehrlich, oder?»
«Sagt man, ja. Aber ich bezweifle, dass es sein Wunsch ist, dass du ausziehst.»
«Nein, wahrscheinlich nicht. Er war wohl gerade verärgert wegen mir. Außerdem versicherte er mir fünf Minuten später, wie gern er mich habe.»
«Eben, siehst du?»
«Ja. Und ich behaupte ja nicht, dass ich bei meinen Kindern keinen Eindruck hinterlasse. Aber abgesehen von den Menschen in meiner unmittelbaren Nähe wird sich niemand an mich erinnern, wenn ich tot bin.»
«Das ist bei fast allen Menschen so, oder etwa nicht? Sie leben, sie sterben, sie werden vergessen, und was bleibt, ist ein Name auf einem Grabstein.»
«Ich weiß. Aber das genügt mir nicht.»
«Was willst du denn?»
«Etwas Außergewöhnliches leisten. Etwas Bedeutsames, etwas Bleibendes, etwas Wichtiges.»
«Dann schreib ein Buch. Oder eine Oper.»
«Kann ich nicht.»
«Doch, du könntest. Vielleicht keine Oper, aber zumindest ein Buch.»
«Es wäre schlecht.»
«Wie du meinst. Was willst du denn sonst machen? Gegen eine Diktatur rebellieren?»
«Ist hierzulande im Moment schlecht möglich.»
«Willst du die Welt retten?»
«Die Welt ist nicht mehr zu retten.»
«Was dann?»
«Ich weiß nicht. Irgendetwas, das von Wert ist.»
«Dann geh nach Burkina Faso.»
«Was soll ich in Burkina Faso?»
«Helfen.»
«Inwiefern?»
«Keine Ahnung. Einen Brunnen in einem Dorf bauen.»
«Warum sollte ich das tun?»
«Es wäre wertvoll.»
«Trotzdem würde sich niemand an mich erinnern, wenn ich tot bin. Höchstens ein paar Dorfbewohner.»
«Geht es einfach um dein Ego?»
«Nein, ich glaube nicht.»
«Glaubst du, Gustav Wegert ließ seinen Arm unten, damit sein Name in Erinnerung bleibt?»
«Nein. Er tat es wohl aus Überzeugung. Aber seine Nachkommen sind noch heute stolz auf ihn.»
«Du möchtest, dass deine Kinder stolz auf dich sind?»
«Ja, natürlich möchte ich das.»
«Dann sei doch einfach ein guter Vater.»
«Aber das reicht mir nicht.»
«Deinen Kindern dürfte es reichen.»
«Ich weiß nicht.»
«Sie brauchen keinen Gustav Wegert. Sie brauchen dich.»
«Wie du meinst.»
«Ja, meine ich. Und wer weiß, vielleicht kommt irgendwann ein Moment, um deinen Arm unten zu lassen, während alle anderen salutieren. Aber bis dahin… Ach, ich weiß nicht. Ich bin ein schlechter Ratgeber. Aber sei doch einfach du selbst. Jemand anderes kannst du gar nicht sein. Und schon gar nicht Gustav Wegert.»
«Oder August Landmesser.»
«Oder August Landmesser.»

Ja, weigert Euch, mit der Masse im Strom zu schwimmen – auch unter: http://www.totalerstaat.wordpress.com
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ein guter Ratgeber, der meint, er sei ein schlechter!
Zu seinen Überzeugungen stehen, das ist wichtig und sich nicht hinter der Masse verstecken.
Ich betrachte mir dieses Foto und sehe einen Mann, der die Hände verschränkt hat, statt wie die anderen eine Hand zu heben. Ich sehe sein Gesicht, ein gutes, ein kritisches, ein denkendes. Hoffentlich hatte er ein langes und erfülltes Leben.
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Ja, das Foto, es zeigt nicht nur einen Mann, der seinen Arm nicht hebt, sondern offenbar auch einen, der genau weiss, weshalb er es nicht tut, einen Mann, der eine entschiedene Haltung zeigt…
Vielen Dank fürs Lesen und für deine Gedanken, liebe Bruni…
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