Die Sonnenblumen hatten ihn eigentlich nie sonderlich interessiert. Er hegte weder Groll noch ausgeprägte Zuneigung, sie waren einfach da, standen stumm in jenem Feld, welchem er häufig entlangging, ganz normale Sonnenblumen, und sie waren ihm ziemlich egal. Manchmal blitzten Gedanken auf, eine von ihnen zu pflücken, doch er wusste, dass dies verboten war, also tat er es nicht.
Irgendwann jedoch begannen die aufblitzenden Gedanken, sich zu häufen. Immer öfter stellte er sich vor, wie es wäre, eine Pflanze auszureißen oder sie am Stiel abzuschneiden. Zu Beginn dachte er sich nicht viel dabei und glaubte, es seien bloß kleine Störfeuer seiner Fantasie. Mit der Zeit jedoch wurden die Gedanken konkreter, die entstehenden Bilder realer und greifbarer. Schließlich sagte ihm jemand, er solle sich seinem Drang nicht länger widersetzen, ihm endlich nachgeben, doch es war niemand zu sehen. Hin und wieder las er von Menschen, die ins Feld eingedrungen waren und Sonnenblumen gepflückt hatten. Keiner wurde dadurch glücklich, die Gesellschaft war entsetzt, und auch er fand das Verhalten dieser Personen irgendwie krank, selbst wenn er es in gewisser Weise nachvollziehen konnte.
Es war ein Dienstag, als er beschloss, es zu tun. Er kaufte sich ausreichend Werkzeug und plante, am folgenden Donnerstag so viele Sonnenblumen wie möglich zu pflücken. Am Mittwochabend ging er früh zu Bett, er wollte ausgeruht sein. Doch er fand nur wenig Schlaf, zu groß war die Nervosität, die seine Finger zittern ließ. Am nächsten Morgen waren die Hände wieder ruhig.
Er schrieb einige Worte auf einen Zettel, packte seine Sachen und verließ das Haus. Unterwegs hielt er einige Male an, um zu prüfen, ob er alle notwendigen Utensilien mitgenommen hatte. Als er beim Feld eintraf, hatte sich die Sonne bereits ein wenig über die Hügel am Horizont erhoben und ließ die Köpfe der Sonnenblumen in hellem Gelb erstrahlen. Dann ging alles sehr schnell.
Geräuschlos und gezielt stürmte er ins Feld und begann, mit beinahe mechanischer Präzision die Stiele wahllos ausgesuchter Sonnenblumen abzutrennen. Immer wieder glitt sein großes scharfes Messer durch die grünen Fasern, ohne nachzudenken, ließ er einem fatalen Schnitt den nächsten folgen. Erst als er in der Ferne Polizeisirenen hörte, hielt er zum ersten Mal inne und blickte sich um. Überall lagen Sonnenblumen reglos auf dem Boden, einige Blütenblätter bebten im kühlen Wind des jungen Tages. Er war seltsam ruhig, das Gewicht seines Körpers spürte er nicht mehr.
Schließlich bemerkte er hinter den noch stehenden Sonnenblumen das Aufblitzen von blauen Lichtern, und jemand schien unverständliche Worte in seine Richtung zu rufen. Er umklammerte den Griff seines Messers, betrachtete einen Streifen seines Spiegelbildes in der glänzenden Klinge. Seine Augen. Er wusste nicht, ob sie lächelten oder weinten, doch es war egal. Dann holte er mit dem Messer ein letztes Mal aus.

hm… das hat richtig Lust gemacht!
das auch mal zu tun! Konkret!
doch wo finde ich ein solch tolles
zu tolles Sonnenblumenfeld
irgendwo auf der Welt?!
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Das Sonnenblumenfeld findest du überall, lieber Finbar, doch zur Nachahmung scheint mir Derartiges nicht empfohlen, und ich hoffe doch sehr, dass du deine entsprechende Lust doch noch zu bändigen weisst… Weil Sonnenblumen sind ja auch nur Menschen.
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ich kann mir nicht helfen, ich sitze hier und grinse, grinse diese Sirenen an, höre und sehe die blauen Lichter, ich grinse, denn ich habe mich überwunden, habe meinem Drang nachgegeben, ich habe mich selbst überwunden, ich bin Sieger über mein eigenes Ich, ich liess es eine Zeitlang im Stich und stach und stach, das Messer blitzte und ich fand erst meine Ruhe, als auch die Sonnenblumen ihre ewige Ruhe hatten…
Und nun erkennst Du es ganz genau, wie eindringlich Dein Text war, ich war plötzlich mittendrin
und im Feld der hohen sonnengelben Gigantenblüten und ich köpfte sie mit Dir…
Sachen gibt es
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Schön, dass du dich irgendwie hast mitreissen lassen, liebe Bruni… Doch aller Selbstüberwindung zum Trotz scheint es mir nur bedingt erstrebenswert, zu den Sonnenblumenköpfenden zu gehören, und ich bin sehr froh, dich am Ende vor dem Computer und nicht draussen im Feld zu wissen… 😉
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na ja, da kann ich Dich beruhigen, bin keinem Feld zu nahe gekommen – nur dem Computer – wie Du es schon erraten hattest… 🙂
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Sehr schön, dann bin ich beruhigt…
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Saugeil! Niegelungenklage approves.
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Saugeil, dein Gutheissen, vielen lieben Dank!
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grenzüberschreitend und beklemmend. einfach gut!
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Einfach nur Danke!
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Lieber Disputnik. Danke. Immer wieder aufs Neue. Immer wieder überraschend.
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Lieber Faktoid. Danke. Immer wieder aufs Neue. Fürs Lesen und für deine Worte.
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