«Du musst es rauslassen.»
«Was muss ich rauslassen?»
«Die Scheiße. Die ganze Scheiße.»
«Welche Scheiße?»
«Halt eben das, was dich bedrückt.»
«Ist nicht so schlimm.»
«Deine Augen sagen etwas anderes.»
«Ich kann das nicht so gut.»
«Was?»
«Darüber reden. Außerdem ändert sich dadurch sowieso nichts.»
«Natürlich ändert sich etwas.»
«Ich glaube nicht.»
«Es ist wie beim Scheißen.»
«Muss diese Fäkalsprache sein?»
«Ja, muss sie. Gerade darum geht es ja. Du musst die Dinge beim Namen nennen. Es geht nicht um Stuhlgang. Nicht um Defäkation. Sondern ums Scheißen.»
«Ich finde das Wort unangebracht.»
«Es ist angebracht. Unbedingt.»
«Ach ja? Warum denn?»
«Bestimmt musstest du irgendwann einmal dringend scheißen, aber es war gerade keine Toilette in der Nähe, oder?»
«Ja, kann sein.»
«Eben. Du spürst die Scheiße in dir, du merkst, wie sie dich fertig macht, sie wühlt dich auf. Du willst einfach nur scheißen, aber du kannst nicht. Verstehst du?»
«Ich weiß nicht, was es da zu verstehen gibt, und die Wortwahl missfällt mir, aber ja, ich kenne das Gefühl.»
«Gut. Irgendwann findest du dann eine Toilette, vielleicht auch nur einen bequemen Baumstamm im Wald, um dich anzulehnen. Jedenfalls kannst du endlich scheißen. Wie fühlt sich das an?»
«Naja, es ist eine Erleichterung.»
«Eine Erlösung?»
«Erlösung ist mir dann doch ein wenig zu pathetisch.»
«Ist eigentlich scheißegal, wie du’s nennst. Aber es fühlt sich gut an, wenn die ganze Scheiße draußen ist, oder?»
«Ja.»
«Eben. Und mit den Gefühlen ist es wie mit der Verdauung. Die Scheiße muss raus.»
«Und wozu soll das gut sein? Es ist ja nicht so, dass ich, wenn ich meinen Darm nach langem Warten endlich entleeren kann, danach nie mehr zur Toilette muss. Am nächsten Tag bin ich bereits wieder am gleichen Punkt. Es ändert sich nichts.»
«Doch. Am nächsten Tag ist es neue Scheiße. Die alte Scheiße ist weg.»
«Aha.»
«Ja.»
«Trotzdem, es ist nicht zu vergleichen. Wenn ich darüber rede, was mich traurig macht, ändert sich nichts daran, dass es mich traurig macht.»
«Aber die Scheiße ist draußen.»
«Ja, und sie stinkt.»
«Natürlich stinkt sie. Aber dann spült man sie runter. Oder schaufelt Erde drüber.»
«Und dann soll alles gut sein?»
«Nein, natürlich nicht. Aber die Scheiße wird irgendwie greifbarer.»
«Jetzt wird’s merkwürdig.»
«Vielleicht ist greifbar das falsche Wort. Konkret, substanziell, ich weiß nicht.»
«Ist ja auch egal.»
«Es geht nicht nur ums Scheißen. Es geht auch darum, was geschieht, wenn du’s nicht tust.»
«Ach.»
«Ja. Entweder geht’s irgendwann in die Hose. Oder du explodierst.»
«Schöne Vorstellung.»
«Ziemlich beschissen, oder?»
«Kennst du den Begriff Koprolalie? Er steht für den zwanghaften Gebrauch von Fäkalsprache.»
«Koprolalie ist mir scheißegal. Du bist mir nicht scheißegal. Und darum finde ich, dass du die Scheiße rauslassen musst.»
«Ich kann es nicht.»
«Musst du es noch verdauen?»
«Meine Güte, es hat wirklich etwas Zwanghaftes, oder?
«Vielleicht, ja. Aber wenn etwas Furchtbares, Außergewöhnliches oder Einschneidendes geschieht, sagt man doch manchmal: Das muss ich erst mal verdauen. Oder?»
«Ja, kann sein.»
«Eben. Zuerst muss man’s verdauen. Dann muss man scheißen. Dann wird’s besser.»
«Wie du meinst.»
«Wie fühlst du dich denn im Moment.»
«Ich weiß nicht. Beschissen, um deine Sprache zu sprechen.»
«Ich verstehe. Und ich will dich nicht drängen. Ich will nur, dass du weißt, dass ich da bin, wenn du reden willst.»
«Danke. Ich melde mich, wenn ich defäkieren kann, okay?»
«Das hört sich irgendwie beschissen an.»
«Okay. Ich melde mich, wenn ich scheißen kann. Besser?»
«Scheiße, ja.»

Groß 🙂
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Danke!
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Triebunterdrückung.
Immer, jederzeit, jeden Tag.
Ziemlich drastisch auf den Punkt gebracht, aber das schmälert den Wahrheitsgehalt in keinster Weise. Abgesehen davon, kennen wir sochle Gespräche bestimmt alle…
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Vielen Dank für deine Worte, und ja, derartige Gespräche kennen wohl die meisten, ebenso die Gedanken und Gefühle dahinter, die unterdrückten und die (nicht immer passend) kanalisierten…
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Ich leide nicht darunter – Koprolalie – und bisher kannte ich nicht mal dieses Wort, obwohl ich einige kenne…*g*
Ein erstaunlicher Text, lieber Disputnik, und doch wieder gar nicht so sehr.
Gut, die Sprache klingt, so geschrieben zu sehen, krass und ich mag sie nicht, aber dieses Rauslassen oder Zurückhalten ist das, was tatsächlich täglich passiert und lebensnotwendig ist.
Es ist durchaus mit unserer Verdauung zu vergleichen und Du tust es, prägnant und auf den Punkt gebracht, eindringlich und glasklar.
Ein wirklch guter Text, den mann/frau aber genau und Satz für Satz lesen sollte, um ihn gut zu verstehen
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Vielen Dank, liebe Bruni, dass du dich trotz Fäkalsprache durch den Text gelesen hast, und deine Worte, sie freuen mich sehr, wie immer. (Und Koprolalie musste ich auch nachschlagen…) Nochmals Danke und liebe Grüsse dir…
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