Wahrscheinlich begann es mit Gandhi. So hieß ihr Hamster, der erste und einzige. Als er sich eines Tages nicht mehr rührte, waren ihre Tränen so bitter wie nie zuvor. Ihre Mutter nahm sie in den Arm, strich sanft über ihr Haar. Dann sagte ihr Vater, er würde Gandhi nun wegbringen, und Vera erstarrte, das Schluchzen verstummte. Sie bat darum, Gandhi noch ein letztes Mal sehen zu dürfen. Ihr Vater zuckte mit seinen Schultern und führte sie in den Keller, wo der Körper des Hamsters auf einem kleinen Tisch lag. Nachdem ihr Vater wieder nach oben gegangen war, nahm sie Gandhi vorsichtig in die Hände, drückte ihn an sich und eilte aus dem Haus. Vera rannte zu einem nahe gelegenen Waldstück, legte den Hamster neben sich auf den Boden und begann mit bloßen Händen zu graben.
Es waren vor allem Unbekannte, die Vera noch fragten, was sie denn später werden wolle. Alle anderen kannten die Antwort und zuckten dennoch stets unweigerlich zusammen, wenn Vera jenes Wort sagte. Totengräberin. Die anderen Kinder lachten nicht, sie nickten nur und schienen ein wenig verwirrt. Die Erwachsenen lachten, laut und weit oben. Dann lächelten sie milde. Irgendwann erstarb das Lächeln auf ihren Gesichtern. Und schließlich gaben sie Vera zu verstehen, dass sie besser etwas anderes werden solle. Vielleicht Krankenschwester. Gute Gründe nannten sie nicht, die Argumente beschränkten sich auf den Hinweis, dass alle anderen Mädchen in ihrem Alter auch Krankenschwestern werden wollten, vielleicht auch Tierpflegerin oder sogar Sängerin. Doch Vera blieb stur. Totengräberin.
Irgendwann marschierten ihre Eltern in ihr Traumland ein und zerstörten es. Zurück blieben Trümmer und der Befehl, eine Berufsbildung im Bürobereich zu absolvieren. Vera protestierte, sie tobte und weinte, doch am Ende fügte sie sich. Nach ihrem erfolgreichen Abschluss verließ sie das Elternhaus, zog in eine andere Stadt und bald darauf in ein kleines Dorf.
Wenn Vera die Frage, was sie denn beruflich mache, mit leiser Stimme beantwortet, lachen die Leute, laut und weit oben. Dann lächeln sie milde. Und spätestens, wenn Vera nach mehrmaligem Nachfragen auf ihrer Antwort beharrt, stirbt das Lächeln auf ihren Gesichtern. Totengräberin. Wer wird denn freiwillig Totengräberin, wollen einige wissen, doch die meisten sagen nichts. Vera weiß, dass man über sie redet, doch es ist ihr egal. Irgendwann hören alle auf zu reden.
Die Kinder sind schlimm. Erwachsene zu begraben, ist längst Routine geworden, aber Kinder lassen Vera noch immer erschaudern. Es geht nicht nur darum, dass ihr Leben zu kurz war. Zeit ist ein schlechter Maßstab, und häufig tragen sehr alte Menschen die größte Leere im Gesicht. Was Vera zu schaffen macht, sind die Dinge, die ungesagt blieben, ungetan, unerreicht. Die leeren Traumhülsen, die unbeantworteten Fragen. Hin und wieder gräbt sie mit bloßen Händen, wenn sie mit kleinen Kindern zu tun hat, wie damals bei Gandhi. Und manchmal begegnet sie den Erwachsenen, die zurückgelassen wurden. Niemand lacht, aber einige versuchen zu lächeln, und Vera lächelt zurück. Dann stirbt das Lächeln auf ihren Gesichtern.

Danke!
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ein sehr schlanker Hamster, ja, aber mit einem dicken Fellchen und es war so weich…
mit dem Hamster begann es, sie merkte, wie wichtig es war, mit Liebe zu begraben, das Liebste nicht in andere Hände zu legen u. ihm selbst diesen letzten Dienst zu erweisen., ihn zu seiner ewig währenden Ruhe zu betten.
Was für eine Geschichte und wie gut zu verstehen, was sie empfindet, welches tiefe Verständnis für eine letzte liebevolle Handlung…
Für ein Kleines mit den Händen selbst da graben, wo es liegen wird – ein wundervoller Gedanke
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Vielen Dank, liebe Bruni, für deine Gedanken, für deine wunderbaren Worte…
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„der Tod passt häufig nicht ins Schema“ trifft es auf den Punkt. Wir leben in einer Anti.Aging- Gesellschaft. Alt werden oder gar sterben ist hier nicht gefragt…Das durfte ich auch in meiner Ausbildung als Altenpflegerin schnell feststellen. Und jetzt im Studium(Sozialpädagogik) wollen auch nur die wenigsten mit dem Tod zu tun haben und keiner versteht warum ich gerne in den Hospitz/Palliativ Bereich möchte.
Ich mag Vera, dnen sie hielt an ihrem Traum fest ♥ Und um Gabndhi tut es mir herzlich leid!
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Ja, die Berührungsängste im Bezug auf das Sterben und den Tod sind gross. Einerseits verständlich, ein Grund zur Freude besteht schliesslich selten. Andererseits auch seltsam, da im Leben nichts so sicher ist wie die Tatsache, dass es dereinst enden wird…
Vielen Dank fürs Lesen und für deine Gedanken…
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Das muss aber ein sehr schlanker Hamster gewesen sein, wenn er Gandhi hiess…
Noch immer und wahrscheinlich auch für immer wird der Tod und alles was damit zusammenhängt die Menschen ganz besonders faszinieren, so wie nur noch Geburt und vllt noch Liebe…
aber wer will schon kleine, gerade geborene Kinder begraben?!
und dennoch MUSS es jemand tun…
die Menschen müssten eigentlich darüber froh sein, dass es
Totengräberinnen und Totengräber gibt,
auch als Berufung, Beruf…
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Ja, müssten sie, doch die Totengräberin passt wohl nicht ins Schema, das viele im Bezug auf Berufswünsche haben. Und der Tod passt häufig nicht ins Schema, das viele im Bezug auf das Leben haben. Vieles passt nicht rein, und allzu häufig klammern wir es aus…
Vielen Dank für deine Worte, lieber Finbar.
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ja, das ist bitter, denn umso bitterer ist er dann auch, der Tod, erscheint er dann…
außer wohl in Mexiko… dort wird damit gelebt *lächel*
und nicht dagegen angegangen…
liebe Grüße an Dich
Finbar
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