«Die Zeit wird dich retten», flüstert er, und sie lächelt, doch sie glaubt ihm nicht.
«Es liegt keine Rettung in der Zeit», erwidert sie, «die Zeit rettet niemanden, und niemand rettet sich vor der Zeit.»
Er steht neben ihr, sie blicken in entgegengesetzte Richtungen. Er sieht ihr Gesicht nicht, doch er bemerkt, dass sie weint, die Tränen prallen auf den hölzernen Boden wie Bomben auf ödes Land.
«Warum bist du traurig?» will er wissen.
«Ich bin nicht einfach traurig. Nicht nur.»
«Warum dann die Tränen?»
«Die Dinge sind so wunderschön. Und so furchtbar.»
«Licht und Schatten?» fragt er, und sie senkt ihren Kopf.
«Es geht nicht um Licht und Schatten. So einfach ist es nicht, schon lange nicht mehr. Früher war es einfach. Früher war die Welt so bunt, unzählige Farben, und doch sah ich nur Schwarz und Weiß. Was nicht gut war, war eben schlecht. Und was nicht schön war, war eben hässlich. Heute gibt es fast keine Farben mehr. Es gibt nicht einmal Schwarz und Weiß. Es gibt nur Grau. Schattierungen von Grau. Überall. Da werden Dörfer ausgerottet, Städte bombardiert, Unschuldige ermordet und die Schuldigen beschützt. Da werden Frauen und Kinder vergewaltigt, Familien getötet und ganze Regionen vergiftet. Da stirbt ein achtjähriges Mädchen in ihrer sogenannten Hochzeitsnacht an inneren Verletzungen, und der Mann, der ihr Vater sein könnte, aber ihr Ehemann ist, und der Mann, der ihr Vater war, sie dann jedoch verkaufte, sie zucken mit ihren verdammten Schultern und sagen Hoppla. Alle sagen Hoppla. Wer will, dass die Welt so bleibt, wie sie ist, will nicht, dass sie bleibt, hat Erich Fried einmal geschrieben, und er hatte Recht. Jetzt ist er schon lange tot und die Welt ist noch da. Sie ist nicht mehr so, wie sie einmal war, aber besser geworden ist sie auch nicht. Nicht die große Welt. Und auch nicht die kleine. In mir ist schon so viel gestorben, nicht nur die Farben. Von all den schlimmen Dingen finde ich mich selbst das schlimmste. Und ich bin es leid, dass die große und die kleine Welt so furchtbar sind. So hässlich. Und weißt du, was ich mache? Weißt du es? Nichts. Ich mache nichts. Ich sehe zwar hin, und ich schüttle den Kopf, doch ich mache nichts. Ich sage Hoppla. Das Grau ist so dunkel, dass ich kaum etwas erkennen kann. Ich weiß, dass Blut rot ist, doch wenn es aus Köpfen und Bäuchen rinnt, ist es grau, dunkelgrau. Und ich sage Hoppla. Aber dann… Aber dann kommst du. Kommst einfach zu mir und sagst mir, dass ich schön sei, sogar dann, wenn ich weine. Du erzählst mir von Liebe und du erzählst so lange, bis ich es glaube. Du bringst mich zum Lachen, du machst mich leichter, und ja, du machst mich besser. Du machst mich größer, doch je größer ich werde, desto größer wird auch die Angst. Die Angst, dich zu verlieren. Die Angst, dass alles nur ein Traum war, ein Spiel, ein lächerlicher Betrug. Manchmal kneife ich mich. Richtig heftig, bis es weh tut. Bis ich merke, dass es noch da ist, dass du noch da bist, wir noch da sind. Dass es gut ist. Gut und schön und rein. Dann schaue ich genau hin, und vielleicht entdecke ich einige Flecken, vereinzelte Punkte, ganz klein. Sie sind kaum zu sehen, aber sie sind da, und schon wird alles langsam grau, ein hellgraues Muster, das immer mehr stört. Und weißt du, was ich mache? Nichts. Ich mache nichts. Ich sehe zwar hin, und ich schüttle den Kopf, doch ich mache nichts. Ich sage Hoppla. Das Grau ist so hell, dass ich kaum etwas erkennen kann. Ich weiß, dass Blut rot ist, doch wenn es in mir drin pulsiert, ist es grau, hellgrau. Und ich sage Hoppla.»
Er steht neben ihr, sieht sie nicht an, und dann weint er, die Tränen prallen auf den hölzernen Boden wie Bomben auf ödes Land. Er atmet ein und atmet aus, und dann hält er seine Hand vor ihre Augen.
«Was siehst du?» fragt er mit matter Stimme.
«Nichts.»
«Keine Farbe?»
«Nein. Nur Grau.»
Er belässt seine Hand vor ihren Augen und wartet. Sie stehen reglos nebeneinander.
«Und jetzt?» fragt er nach einigen Minuten.
«Dunkelrot.»
«Siehst du? Die Zeit wird dich retten», flüstert er, und sie lächelt, doch sie glaubt ihm nicht.
«Ich will nicht erblinden, damit ich die Farben wieder sehen kann.»
«Gut, vielleicht geht es nicht um Zeit», räumt er ein, nachdem er die Hand von ihren Augen genommen hat. «Vielleicht geht es auch nicht um Rettung. Vielleicht musst du dich einfach umdrehen.»
Sie blinzelt und dreht sich um. Er blickt sie von der Seite an und bemerkt, dass sie erneut weint, doch er weiß nicht, ob die Tränen im Wunderschönen oder im Furchtbaren wurzeln.
«Was siehst du?»
Sie zuckt mit den Schultern, ihre Mundwinkel zucken.
«Hoppla.»

Wunderschön und zugleich absolut mitreißend. Ich habe tatsächlich etwas geweint bei diesem Text, aber diesen Tränen weine ich nicht hinterher. Den dieser Text ist wichtig. Und wirklich wunderbar geschrieben. Es mag komisch wirken, aber…Danke für diesen Text.
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Ich habe zu danken, fürs Lesen und für deine Worte. Und wenn die Tränen denn von der guten Sorte waren, dann ist’s schön, sehr schön. Danke!
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Nein, es ist nicht so einfach. Nie gibt es nur Licht und Schatten, nie gibt es nur Graues und nie nur Tränen aus Leid und keine Liebe, die keines mit sich bringt.
Fast möchte ich sagen, mit dem Menschen kam Leid in die Welt und mit dem Leid kam auch Freude und das Umdrehen hilft und das Halten, das NichtFallenlassen, das Auffangen, das Tragen und das Helfen, das Miteinander und das Hoffen aufeinander… Doch das Hoppla ist das, was mit Schulterzucken abtut, was scheinbar nicht zu ändern ist und das ist schlimm
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Ja, es ist schlimm, dieses Hoppla, und in jedem Grau stecken wohl auch Farben, aber man muss mitunter heftig daran rütteln, um sie sehen zu können… Vielen herzlichen Dank fürs Lesen, für deine Gedanken und Worte, liebe Bruni…
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Traurigschön ist eine gute Mischung.
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Danke!
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