0:53. Der Versuch der Beeinflussung. Nicht denken. Nicht denken. Nicht denken. Ein stetiges Suggerieren, der Versuch, sich selbst zu manipulieren, doch der Versuch, er misslingt, sie liegt wach, und in ihrem Kopf eilen die Gedanken wie Ameisen über sandiges Gelände. Das Zimmer ist dunkel, die Fensterläden sind geschlossen, und das einzige Licht entstammt der kleinen Digitaluhr neben dem Bett. Rote Ziffern, die ihr mit stoischer Gelassenheit davon erzählen, wie lange sie schon erfolglos nach Schlaf sucht.
1:37. Die langen Fingernägel ihrer Lehrerin. Eine Hexe, mit einem dauergewellten schwarzen Etwas auf dem Kopf. Sie hört noch immer ihre Stimme, die ihren Namen ausspricht, als wäre er eine eklige Masse oder eine tödliche Krankheit. Aus ihr werde niemals etwas werden, wenn sie sich nicht zusammenreiße, sagte sie damals, vor zwei Jahrzehnten oder Jahrhunderten. Sie weiß nicht, ob sie sich zusammengerissen hat, aber zumindest ist etwas aus ihr geworden. Nur ist sie sich nicht sicher, was es ist.
2:05. Das Gesicht ihres Vaters. Sie war vielleicht zwölf Jahre alt und schlich in der Nacht durch das Haus. Sie war durstig und auf dem Weg in die Küche, um etwas trinken, doch als sie einen schwachen Lichtschein im Wohnzimmer bemerkte, spähte sie durch die halb geöffnete Tür. Da saß er, vor dem Fernseher, der nur schwarz-weißes Rauschen zeigte. Sein Blick schien eingefroren, er starrte auf den Bildschirm, die Haut seines Gesichtes schimmerte bleich. Unbeabsichtigt berührte sie die Tür, die mit einem leisen Knarren darauf reagierte und sie zusammenzucken ließ. Ihr Vater drehte seinen Kopf, unerträglich langsam und seltsam mechanisch. Er blickte ihr direkt in die Augen, doch er schien sie nicht zu erkennen. Sie fragte flüsternd, ob alles in Ordnung sei, doch er blieb stumm. Irgendwann wandte er seinen Blick wieder dem Fernseher zu. Sie blieb im Türrahmen stehen, mit dem Gefühl in den Knochen, dass irgendetwas Schweres auf ihr lag.
2:57. Die Insel im Meer. Sie weiß genau, wie sie aussieht, kennt jede Biegung der Küstenlinie, den beinahe weißen Sand und das kräftige Grün der Vegetation im Landesinneren. Sie findet die schmalen Pfade, die durch den Wald führen, jede Erhebung ist ihr geläufig, das Geräusch der Brandung weckt Erinnerungen. Erinnerungen, die es nicht geben kann, denn sie war noch nie da, war noch nie auf dieser Insel, nicht wirklich. Trotzdem oder gerade deshalb ist es ihre Insel, ihr Ort der Zuflucht. Das Vertraute und Bekannte jedoch, es schwindet, die Insel bröckelt. Sie wird kleiner, enger, und der einst hellblaue Ozean verdunkelt sich immer mehr.
3:36. Der Körper einer Katze. Ein braunes Bündel, merkwürdig verkrümmt, es lag im nassen Gras vor dem Haus. An einer offenen Wunde am Bauch hatten sich Fliegen versammelt. Sie versuchte, die Fliegen mit einem Stock zu vertreiben, doch sie kehrten immer wieder zurück. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, sie kniete sich hin und streichelte das Fell. Immer wieder stammelte sie die Frage, wer so etwas tun könne. Die Katze gab keine Antwort. Irgendwann kam ihre Mutter und zog sie weg.
4:19. Das Klicken in der Leitung. Sie sprach in ein schnurloses Telefon, beinahe atemlos reihte sie Sätze aneinander, als hinge ihr Leben davon ab. Sie flüsterte und wisperte, dann wieder schrie und schluchzte sie. Am anderen Ende der Leitung blieb es still, sie hörte lediglich ein stetiges Klicken, hin und wieder ein leises Stöhnen. Ihre Fragen blieben unbeantwortet, ihre Worte ohne Widerhall. Als sie nichts mehr zu sagen wusste, verstummte sie. Einige Minuten vergingen, dann hörte sie endlich seine Stimme. Okay, sagte er. Mehr nicht. Dann legte er auf. Sie blickte auf die leuchtende Anzeige über dem Nummernblock, in welcher noch immer sein Name aufleuchtete. Schließlich drückte sie den roten Knopf und warf das Telefon gegen den kleinen Spiegel an der Wand. Er zerbrach nicht, nur das Telefon zersprang in einzelne Teile.
5:23. Die Wut in ihrem Hals. Sie möchte aufstehen und etwas zerstören, möchte den Porzellanelefanten an die Wand schleudern oder Bücher zerreißen, möchte kotzen oder kreischen, möchte auf ihren Kopf einprügeln oder auf ihre Unterlippe beißen, möchte irgendetwas tun, damit sie nur noch fühlt und nicht mehr denkt, möchte endlich einschlafen. Ruckartig zieht sie die Decke über ihren Kopf, doch schon nach wenigen Sekunden ist ihr zu heiß. Sie schiebt die Decke vom Bett und beginnt zu frieren. Sie sucht den Schalter der kleinen Lampe neben dem Bett, macht das Licht an und löscht es wieder. Nicht denken. Nicht denken. Nicht denken.
6:00. Das Klingeln des Weckers. Sie steht auf, schleppt sich in die Küche, schaltet die Kaffeemaschine ein. Sie drückt einen Knopf, und das Heulen des Mahlwerks bohrt sich in ihren Kopf. In einen dünnen braunen Strich rinnt der Kaffee in die Tasse. Das Heulen bleibt, und erst, als sie auf den Balkon tritt, ebbt es allmählich ab, ohne jedoch vollkommen zu verschwinden. Sie stellt sich vor den Spiegel, betrachtet das Gesicht, die harten Konturen, die dünnen Schlitze mit den leeren Augen. Dahinter noch immer das Heulen. Nicht denken. Nicht denken. Nicht denken.

Wahnsinnig gut geschrieben, stilistisch als auch inhaltlich! Konnte mich sofort in die Situation hinein denken.
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Vielen lieben Dank dir, fürs Lesen und Hineindenken!
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das mach ich, aber ich verrate es Dir nicht *g*
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Sehr schön!
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eine schlaflose Nacht,
eine, in der die Gedanken in endloser Kette an ihr vorbeiziehen, sich nicht abschalten lassen…
Schwere Gedanken, unbewältigte Ereignisse, zu denen immer neue dazukamen und alle plagen in der Dunkelheit
und versuchen, von ihr beachtet zu werden, doch ohne neue Erkenntnisse kann es nicht gelingen,
und die endlose Gedankenkolonne setzt sich aufs Neue in Bewegung, raubt ihr den Schlaf und die Hoffnung,
daß alles gut werden kann, wenn der neue Tag beginnt und sie weiterleben muß/darf …
Wen hat sie wohl angerufen? Weißt Du es, lieber Disputnik?
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Vielen Dank, liebe Bruni, für dein Weiterdenken der schlaflosen Nacht, und ja, manchmal sind solche Gedankenkolonnen tatsächlich scheinbar endlos, bis zum kurzen Einnicken und dem schweren Erwachen… Bezüglich der Frage, wen sie angerufen hat, hab ich natürlich meine Version der Geschichte, doch nur zu gerne darfst du dir deine eigene Geschichte erschaffen… Nochmals Danke für deine Worte!
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