Es ist Zeit für neue Definitionen. Die alten Erklärungen, sie taugen nicht mehr, sie haben vielleicht nie getaugt, sie riechen längst seltsam, es stinkt nach toter Materie, und er hat die Nase voll. Er sitzt auf seinem weißen Plastikstuhl auf dem Balkon und blickt nach unten auf den kleinen Spielplatz vor dem Haus, wo einige Kinder miteinander streiten und sich mit Sandspielzeug bewerfen. Überall herrscht Krieg, denkt er, und er weiß nicht mehr, wer eigentlich gegen wen kämpft, geschweige denn, worum es geht, und er kennt Syrien und Ägypten und Somalia und Irak und Pakistan und die Philippinen und all die anderen Länder der Welt nicht, er kennt höchstens ihre Namen und das, was in den Zeitungen und im Internet steht oder im Fernsehen erzählt wird, und er glaubt schon lange nicht mehr, was geschrieben und gesagt wird, denn alle lügen im gleichen Maß, nur die Motivationen unterscheiden sich, die einzige Wahrheit ist in seinem Kopf, und vielleicht ist er deshalb häufig traurig.
Die Veränderungen, sie kommen nicht immer von alleine. Manchmal muss man sie erzwingen, muss die Dinge aus ihrem Korsett reißen und auf dem Scheiterhaufen verbrennen, das weiß er, das ist nicht neu. Irgendwann sagte sein damaliger Vorgesetzter, seine Arbeitseinstellung sei zum Kotzen, und das hat er dann auch getan, er hat seinem Chef auf die Schreibunterlage aus Leder gekotzt und auch auf den teuren Anzug, und dann ist er gegangen, mit dem Geschmack von Galle im Mund, und das war das letzte Mal, dass er getan hat, was die Leute von ihm wollten. Seither hält er sich mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser, manchmal geht er unter, und da ist ja immer noch der kleine Betrag, den ihm der Staat jeden Monat überweist. Es ist nicht viel, es reicht gerade zum Überleben, aber er will auch gar nicht mehr, er will nicht abhängig sein, schon gar nicht vom Staat, dieser als Demokratie getarnten Diktatur, die von Meinungsfreiheit spricht, aber stets selbst entscheidet, wo diese Freiheit zu enden hat. Er will nicht mehr auf den markierten Wegen gehen, sie führen in die falsche Richtung.
Dass die Sonne das Zentrum des Universums ist, mag er nicht mehr glauben, ebenso wenig, dass all die Planeten um sie kreisen, auch die Erde, die ihrerseits vom Mond umrundet wird. Er hat es gelernt, damals in der Schule, und er hat es geglaubt, er hat alles geglaubt, denn die Lehrer klangen so überzeugt und überzeugend. Doch jetzt ist er nicht mehr überzeugt, er fordert einen sichtbaren Beweis, doch ein solcher bleibt aus, also erschafft er sich seine eigene Astronomie. Die Sonne geht auf, sie wandert von einem Horizont zum anderen, sie geht unter. Das ist es, was er sieht, und das ist, was er fortan glauben will. Eine helle Kugel, die über den Himmel schleicht. Die Sterne, sie leuchten einfach, und das genügt ihm, er muss gar nicht genau wissen, weshalb sie es tun. Das Leben ist sowieso viel zu kompliziert, alles ist so verflochten und verschlungen, im Laden gibt es vierzehn verschiedene Sorten Milch, und darum kauft er keine Milch mehr, darum trinkt er seinen Kaffee schwarz.
Er kreiert einen neuen Kosmos, und es ist ihm egal, dass er nur für ihn existiert, dass nur er sich darin auskennt. Er braucht keine Karten, um sich zu orientieren, und der Plan, seine Zeit mit anderen Menschen zu teilen, ist nur einer der Pläne, die nie funktioniert haben. Auch die Menschen sind viel zu kompliziert, viel verworrener als das Milchregal im Laden, darum geht er mit gesenktem Blick vorüber, darum trinkt er seinen Kaffee alleine. Es war einmal anders, früher. Er teilte seine Zeit, teilte seinen Kaffee, und er sprach von Liebe, wie er häufig von Dingen sprach, die er nicht verstand. Seine Frau, sie verstand ebenfalls nicht, und als er eines Tages den Geruch eines unbekannten Männerparfüms an ihr bemerkte, gab er ihr deutlich zu verstehen, was er davon hielt. Sie hob die Hände vors Gesicht, sie schrie und weinte, und dann ging sie. Seither entschlackt er die Welt, ignoriert alles Überflüssige und erschrickt immer wieder, wie wenig wirklich wesentlich ist. Er mag diese Reduktion, diese Ruhe, und daraus entsteht sein neues Universum, frei von Zwängen und Regeln.
Was nicht wichtig ist, wirft er weg, er hängt alle Bilder ab, denn sie sind lediglich Illusionen, sie zeigen eine Welt, die es nicht gibt, nicht für ihn. Er entsorgt den ganzen Krempel, der seine Venen verstopft, er verbrennt all die Bücher, die Geschichten erzählen, die nichts mit ihm zu tun haben, und den Fernseher schenkt er seiner hübschen Nachbarin, mit der er früher vielleicht gerne mal Sex gehabt hätte, doch jetzt ist es ihm egal, dass sie sich lediglich höflich bedankt und ihn nicht in die Wohnung bittet. Auch sie ist außerhalb. Jedes Gesicht ist außerhalb, und sein eigenes sieht er nicht mehr, alle Spiegel sind zerbrochen, manchmal graben sich Scherben in seine Füße, doch er wird nicht wütend. Wenn das bisschen Blut der Preis ist, den er für die Freiheit zahlen muss, dann zahlt er ihn gerne. Er setzt sich auf seinen weißen Plastikstuhl auf dem Balkon und blickt nach unten. Die Kinder sind weg. Eine Katze schleicht über den Rasen. Er weiß, dass er eine Schüssel mit Milch füllen könnte und die Katze sie trinken würde, ohne zu fragen, um welche der vierzehn Sorten es sich handelt. Nicht etwa, weil sie das Vertrauen hat. Sondern weil es ihr egal ist. Er mag Katzen, irgendwie. Aber er hat keine Milch im Haus.

ach, wieviele Wahrheiten hast Du hier wieder verpackt, schreibend geschickt wie immer ausgepackt
und vor uns ausgebreitet.
Diese Überhäufung mit Dingen, mit Neuigkeiten, mit Wissen und angeblich Wissenswertem.
Dinge, die der Mensch zu wissen hat, sonst steht er abseits, begegnet völligem Unverständnis von allen Seiten…
Die Übersättigung, die Brechreiz erzeugt und hier einen dazu drängt, nur noch einen Plastikstuhl zu benötigen.
Ist es Resignation oder notwendige, mit Absicht überspitzt gezeigte Reduzierung?
LG von Bruni
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Vielen Dank, liebe Bruni… Deine klugen Gedanken und Anmerkungen, sie freuen mich sehr… Ja, die Überhäufung, die Übersättigung, es ist die eine Seite, und womöglich kommt manch einer irgendwann an den Punkt, an dem er alles nicht mehr hören will und sich seine eigene Realität erschafft. Und auf der anderen Seite ist die Übersättigung manchmal vielleicht gar nicht der Auslöser. Manchmal genügt etwas kleines, das im Innern zerbricht, um allem und jedem zu misstrauen. Und vielleicht ist es oftmals beides; Resignation und absichtliche Reduzierung… Nochmals danke, und liebe Grüsse…
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ja, so ist es wohl, eine Winzigkeit hat noch gefehlt, sie löst dann das aus, was Du hier so einfühlend beschrieben hast.
Dieses „Dichtmachen“ kenne ich gut. Man will dann gar nichts mehr hören, wrklich nichts, alles ist zu viel… frau/mann möchte nur noch weg von allem…
LG von mir
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Nochmals Danke… Und gut ist’s, wenn auf das Wegwollen ein Zurückkehren folgt… Auch wenn es leichter gesagt ist als getan…
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sehr schön geschrieben*
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Vielen Liebdank!
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