«Und dann die Banker, die hungrigen, die nimmersatten. Und dann die Versicherungsmenschen mit ihrem künstlichen Lächeln, den zerknitterten Anzügen aus dem Kaufhaus und den Aktenkoffern voller Kugelschreiber, die sie tausendfach verschenken und dabei so tun, als wäre man ein Auserwählter, wenn man einen erhält. Und dann die Staatsangestellten auf den Ämtern, die sich noch in einer Monarchie glauben und sich selbst wie kleine Könige aufführen, dabei aber kaum ihre Schuhe schnüren können. Und dann die Friseusen mit ihren blonden und dauergewellten Mähnen oder den ach so modischen Stufenschnitten, mit den bunt lackierten Fingernägeln mit aufgeklebten Diamantimitaten und dem Allgemeinwissen einer Weinbergschnecke, ja, die Friseusen, die immerzu reden und von Dingen erzählen, die nicht einmal Weinbergschnecken interessieren würden. Wie ich sie verabscheue! Nicht die Weinbergschnecken, aber alle anderen. Weinbergschnecken fressen mir zwar den Salat weg, aber ich kann Salat sowieso nicht ausstehen.»
Der Mann steht an einer Ecke oder im Mittelpunkt, am Rand oder im Zentrum, je nach dem, aus welchem Blickwinkel man ihn betrachtet. Er ruft in die Menge oder ins Leere, je nach dem, ob man zuhört oder weghört. Die Leute gehen an ihm vorüber, einige bleiben stehen, in respektvollem Abstand. Manchmal steht an der Stelle, an welcher er sich eingefunden hat, ein lautstarker Hobbyprediger oder ein ungemein motivierter Student, der den Passanten eine Mitgliedschaft in einem Tierschutzverein schmackhaft machen will. Heute steht er da. Und er ruft.
«Und dann die Tierschützer! Spielen sich auf mit ihrem Heiligenschein, wollen all die armen Katzen und Tiger und Marienkäferchen und Weinbergschnecken retten, und zu Hause schlagen sie ihre Frauen und Kinder! Und dann die Biotanten mit ihren orthopädischen Strümpfen und dem Kamillentee in der Handtasche! Alles muss biologisch sein und nachhaltig und fair! Die essen den ganzen Tag Fenchel oder Tofu, irgendwelche Sojaschnitten, und genauso riechen sie dann auch, stinken alle nach faulem Gemüse, dass sogar den Weinbergschnecken das Kotzen kommt!»
Er redet sich in Rage, und die Leute hören zu, bleiben stehen. Sie nicken zustimmend oder schütteln die Köpfe, sie lachen ihn aus oder ermuntern ihn. Sie finden ihn lustig, ihn und seine Weinbergschnecken. Als er auf die Biotanten schimpft, applaudieren zwei ältere Männer, während ihre Begleiterinnen betreten zu Boden schauen. Der Mann, auf den sich immer mehr Augenpaare richten, kümmert sich derweil nicht um sein Publikum. Er steht einfach da. Und ruft in die wachsende Menge, zetert und verflucht die Busfahrer, die Tennisspieler, die Briefmarkensammler, die Skateboarder, die Politessen, die Wissenschaftler, die Kosmetikverkäuferinnen, die Politiker, die Straßenmusiker.
«Und dann die Frauen! Glauben alle, sie seien etwas Besseres, schreien immer nach Gleichberechtigung! Wenn ein Mann sie anschaut, ist er gleich ein Sexist, und wenn er sie nicht anschaut, sind sie beleidigt.»
Ja, genau, ruft ein Passant dazwischen, und zwei andere Männer johlen.
«Man darf einer Frau keinen Schritt zu nahe kommen, sonst hat man gleich eine Klage wegen sexueller Belästigung am Hals! Weiber! Wenn sie mich fragen; die meisten Frauen, die vergewaltigt werden, haben nichts Besseres verdient! Die setzen es doch genau darauf an! Und nachher heulen sie wieder!»
Die beiden Männer johlen erneut, klatschen zustimmend und klopfen sich lachend auf die Schultern. Eine Frau schreit etwas Unverständliches in die Mitte, doch der Redner winkt mit einem süffisanten Grinsen ab.
«Sei doch ruhig, Schnecke. Brauchst wohl mal wieder einen richtigen Schwanz zwischen den Beinen, was? Am besten einen Negerschwanz, oder?»
Die Frau versucht, möglichst ruhig und beherrscht zu antworten, wird aber von den beiden johlenden Männern übertönt. Ein weiterer Mann ruft, dass die Neger ihre Schwänze lieber einpacken und verschwinden sollten, und erntet vereinzelten Applaus. Der Redner in der Mitte hat aber keine Lust, die Aufmerksamkeit zu teilen, und nimmt das Thema auf.
«Genau, und dann die Ausländer! All die Neger und Türken und Albaner, das ganze Pack! Kommen hierher, verkaufen Drogen auf dem Schulhof und vergewaltigen unsere Frauen! Und dann wollen sie auch noch Geld, leben auf unsere Kosten! Ich bin kein Rassist, aber ohne das ganze Pack wären wir besser dran, viel besser!»
Einige Leute stimmen lautstark zu, vereinzelte recken ihre Fäuste in die Luft. Andere wenden sich ab, gehen langsam und schweigend weiter, blicken sich immer wieder um. Als ein junges Pärchen nach vorne tritt und versucht, den Redner im Zentrum in ein Gespräch zu verwickeln, wird es von den beiden johlenden Männern gnadenlos weggedrängt. Der Redner richtet sein Wort an das Paar.
«Hört doch auf! Ihr seid genauso das Problem wie das ganze Pack! Ihr tut immer so sozial, habt alle Menschen gern, wollt all den armen Negerkindern mit ihren Wasserbäuchen helfen, und dann holt ihr sie hierher, und hier werden sie dann kriminell! Ihr könnt auch abhauen, zusammen mit all den Ausländern!»
Die kleine Gruppe, die sich mittlerweile um den Redner in der Mitte geschart hat, zeigt dem jungen Paar eine Ansammlung von gereckten Mittelfingern und Fäusten. Der junge Mann stellt sich schützend vor seine lauthals argumentierende Freundin und bleibt reglos stehen. Als einer aus der Gruppe der jungen Frau zuruft, sie soll das Maul halten und lieber ihre Titten zeigen, geht ihr Freund auf ihn los. Im folgenden Handgemenge geht der junge Mann zu Boden. Seine Freundin hilft ihm auf die Beine und zieht ihn weg. Die Rufe aus der Gruppe werden lauter, ein Pulk formt sich. Doch plötzlich verstummen die Stimmen.
Der offensichtliche Grund für die unvermittelte Ruhe ist das Auftauchen zweier Polizeibeamten. Die Menge verteilt sich rasch, die Leute gehen möglichst unauffällig ihrer Wege, niemand will beteiligt gewesen sein. Das junge Paar tritt zu den Polizisten und schildert die Vorfälle. Sie zeigen auf den vollmundigen Redner, der sich aber bereits vom Geschehen entfernt hat und hastig um eine Ecke biegt. Die beiden Beamten nicken lediglich, bleiben noch einige Minuten vor Ort, blicken sich um und reihen sich dann in den langsamen Menschenstrom ein, der über den Asphalt zieht, als wäre nichts passiert.
Nur das junge Paar bleibt an jener Stelle, setzt sich auf den Boden. Sie schmiegt sich an ihn, und er legt seinen Arm um ihre Schulter. Allmählich leeren sich die Gassen, die Menschen streben zurück in ihre Wohnungen, in ihre vier Wände, in ihre kleinen Welten. Als die Dämmerung hereinbricht, kriecht eine Weinbergschnecke in Weinbergschneckentempo an den beiden vorüber. Die junge Frau wischt sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Ihr Freund küsst sie auf die Wange, flüstert etwas in ihr Ohr. Sie lächelt. Dann betrachten sie schweigend die Weinbergschnecke vor ihren Füßen.

Die Weinbergschnecke gehört zur Gruppe der Gastropoden, was so viel heißt wie Magenfüßer. Denn hinter dem Kopf befindet auf der Sohle ihr muskulöser Kriechfuß. Hiermit kriecht die Weinbergschnecke, eine feuchte Schleimspur hinterlassend und ihr Gehäuse tragend, mit einem Tempo von etwa 7 cm in der Minute über den Boden. Dabei streckt sie ihre vier Fühler aus. Bei Gefahr zieht sie sich in ihr Schneckenhaus zurück. Der Schleim ist für die Schnecke lebenswichtig und hat verschiedene Funktionen, die dem Schutz und der Verteidigung dienen. Beim Kriechen schützt der Schleim vor Verletzungen des Kriechfußes. Bei Angriffen kleiner Insekten kann die Schnecke größere Mengen Schleim produzieren und diesen aufblasen, um die Angreifer fernzuhalten. Beim Hochkriechen an Wänden verhindert die bindende Wirkung des Sekrets, verbunden mit einer Saugwirkung des Kriechfußes, das Herunterfallen der Schnecke. Die Weinbergschnecke besitzt in den Enden der beiden langen, oberen Fühler je ein Auge. Ebenfalls mit den oberen Fühlern kann die Schnecke riechen. Mit den unteren Fühlern tastet und schmeckt die Weinbergschnecke. Hören kann die Schnecke nicht.
(Wikipedia)
Vielen Dank, liebe Bruni… Jaha, die Engstirnigkeit des Menschen… Und ich weiss gar nicht, was mir mehr Angst macht – jene Menschen, die anderen ihre Engstirnigkeit einreden wollen, die sich hinstellen und aufwiegeln möchten; oder aber jene, die sich bereitwillig aufwiegeln lassen…
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die Massenmanipulierer sind schlimm, die Hetzer gegen alles Gute sind die, die mir Entsetzen einflößen und die, die mit leuchtenden Augen aufnehmen und heftig nicken, weil es endlich einer ausspricht, was sie immer gedacht haben, sind gefährlich und unberechenbar…
Ist fern halten das Beste oder die Konfrontation mit ihnen? Wo fängt dann das Feigesein an?
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Zwei sehr gute Fragen, liebe Bruni… Ich wäre wohl gerne konfrontativer, doch häufig glaube ich mich dann nicht im Recht, meine Meinung irgendwie als richtiger als eine andere darzustellen, und ja, es ist wohl Feigheit, dass ich sie, meine Meinung, dann manchmal für mich behalte. Gänzlich fernhalten und wegsehen dürfte aber wohl kaum der empfehlenswerte Ansatz sein…
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wie gut ist sie, Deine Geschichte.
Der Mensch und seine vielen Gesichter.
Seine Schrullen, seine Widerwärtigkeiten,
seine Engstirnigkeit,
sein Streben nach Aufmerksamkeit
und sein Drang, andere zu manipulieren,
sich ihnen aufzudrängen und sie aufzuwiegeln,
um dann selbst abzubiegen und Leine zu ziehen
feige und wortreich zugleich
Deine Versicherungsvertreter sind haargenau so, wie ich sie auch empfinde,
auch wenn es ein verdammtes Vorurteil sein sollte *g*
Und dann die, die noch nicht resigniert haben, die es immer wieder probieren,
erstmal zu verlieren scheinen u. letztendlich doch wissen, es war den Versuch wert…
Einen lieben Gruß von Bruni
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