Mit großer Wahrscheinlichkeit lautet ihr Name nicht Olga. Aber sie sieht aus wie eine Olga, sie wirkt wie die garstige und übellaunige Trulla aus einem russischen Gesellschaftsroman, an dessen Ende alle Beteiligten sterben, nur eben Olga nicht, die dem eisigen Wind einer unfreundlichen Umwelt mit stoischer Gleichgültigkeit begegnet und sich an der Glut der abgebrannten Brücken die Hände wärmt, während der Rest unter meterdickem Schnee und Eis begraben wird. An dieser Stelle geht es zwar nicht um Borschtsch und den russischen Winter, aber eben um Olga, die wohl nicht Olga heißt, hier aber Olga genannt wird.
Olga arbeitet im kleinen Verkaufsladen jener Tankstelle, die ich jeden Morgen auf dem Weg zur Arbeit aufsuche. Was auch immer den Geschäftsführer zur Anstellung der besagten Dame animiert hat, ein sexistisches Motiv oder eine Reduzierung auf das Aussehen kann ihm nicht unterstellt werden, denn rein optisch ist Olga weiter von jeglicher Attraktivität entfernt als ihr Arbeitsplatz von Nowosibirsk. Unter einem dichten blonden Haarbündel breitet sich eine Art Gesicht aus, mit eng beieinander liegenden Augen und einem Mund, dessen Winkel überaus stark von der Schwerkraft betroffen scheinen. Unter dem eigentlichen Kinn folgen zwei weitere, und der Oberkörper ist eine Ansammlung von hügeligen Gebilden, wobei es kaum gelingt, die Brüste und die einzelnen Elemente des Bauches eindeutig zu lokalisieren, was zusätzlich erschwert wird durch das hellblaue Ladenmitarbeiterhemd, das in Olgas Fall kläglich daran scheitert, die Physis einigermaßen in Zaum zu halten. Insgesamt erstreckt sich ihr Körper auf einer Höhe von geschätzten zwei Metern, wovon die Beine jedoch nur einen verschwindend kleinen Anteil ausmachen.
Wer Olga zum ersten Mal erblickt, sieht sich mit einer gewissen Verblüffung konfrontiert, manchmal auch mit einem leichten Schauder. Ungleich beeindruckender und markerschütternder ist jedoch das Gefühl, wenn man Olga zum ersten Mal hört. Denn Olga redet nicht. Sie schreit nicht, sie brüllt nicht, sie gackert und plärrt nicht. Olga bellt. Ein heiseres und tiefes Bellen, in der Regel beseelt von einer tief empfundenen und allzu offensichtlichen Abneigung gegen die Kunden und gegen jegliche Art der Kommunikation mit ihnen. Ob man seine Tankfüllung bezahlt, einen Schokoladenriegel kauft oder nach dem Sinn des Lebens fragt, ihre verbale Reaktion ist immer die gleiche. Olga bellt.
Wenn ich bei Olga an der Tankstelle einkaufe, ist der Ablauf zumeist ähnlich. Ich lege mein Sandwich auf die Theke. Olga bellt. Ich nenne meine Zigarettenmarke. Olga bellt und dreht sich zum Tabakregal um. Sie schaut, sie wirft ihre Hände in die Luft, dann wendet sie mir den Kopf zu und bellt erneut. Ich wiederhole meine Zigarettenmarke und versuche, mit meinem Finger auf die gewünschte Packung zu deuten, was aber selten etwas nützt, da ihr Körper weite Teile des Regals hinter sich verbirgt. Olga bellt, knallt die Zigaretten auf die Theke und bellt noch einmal. Ich lege das Geld hin. Sie nimmt es, bellt, gibt einige Münzen zurück. Ich bedanke und verabschiede mich. Olga bellt. So läuft es bei mir. Und so läuft es bei allen Kunden. In der Regel.
Einmal glaubt Olga, einen Ladendieb auf frischer Tat ertappt zu haben. Sie bellt, lauter als sonst, und eilt zum Verdächtigten hin, stellt ihn zur Rede. Ihre Worte sind beinahe verständlich, und der Mann, ein Bauarbeiter, der wie ich regelmäßig hier einkauft, wehrt sich vehement gegen die Anschuldigungen. Auf Olgas Geheiß zeigt er den Inhalt seiner Schultertasche, worauf sie triumphierend eine Getränkeflasche in die Höhe streckt. Seine Argumentation, dass besagte Marke im Tankstellenladen gar nicht verkauft werde, überhört sie, bellt wütend in sein Gesicht und packt ihn schließlich am Kragen. Scheinbar mühelos hebt sie den keinesfalls schlanken Mann hoch, schüttelt ihn einige Male und trägt ihn nach draußen, wo sie ihn auf den Asphalt fallen lässt. Dann klopft sie ihre Hände ab, kommt zurück und stellt sich wieder hinter die Theke, um den nächsten Kunden anzubellen.
Ein anderes Mal steht ein winziger Mann vor ihr an der Kasse. Er ist gepflegt gekleidet, Anzug und Krawatte, seine Frisur ist makellos, die Brille randlos, aber eben, er ist winzig. Er muss sich auf die Spitzen seiner schwarzen Lederschuhe stellen, um überhaupt über die Theke blicken zu können. Mit seiner dünnen Fistelstimme schiebt er Worte in Olgas Richtung, die ich, während ich scheinbar interessiert das Zeitschriftenregal inspiziere, nicht verstehen kann. Olga bellt zurück, und der winzige Mann wird ein wenig nervös. Mit unbeholfenen Bewegungen deutet er zu den Zapfsäulen. Offensichtlich scheint etwas nicht zu funktionieren, und Olga wirft entrüstet ihre fleischigen Hände in die Luft, bevor sie um die Theke stampft und nach draußen marschiert. Der winzige Mann folgt ihr wie ein treuer Chihuahua zu einer Tankstation, wo ein wildes Gestikulieren seinen Lauf nimmt. Die stämmige Olga und der winzige Mann diskutieren mit vollem Körpereinsatz und geben ein skurriles Bild ab. Ich beobachte die beiden fasziniert, wende dann aber meinen Blick ab und hin zur Titelseite eines Wissenschaftsmagazins, auf welcher ein Beitrag über die letzten Kannibalen der Erde propagiert wird. Als ich wieder zur Zapfsäule schauen, ist der winzige Mann nicht mehr zu sehen, nur sein winziger Kleinwagen steht noch dort. Olga kehrt derweil wieder an ihren angestammten Platz zurück, und ich könnte schwören, dass ein Stück einer blutigen Krawatte aus ihrem Mundwinkel hängt.
Ich weiß nicht, ob Olga Menschen frisst. Es könnte sein. Dass Hunde, die bellen, nicht beißen, ist nämlich nur ein Gerücht, das die meisten jener Menschen widerlegen können, die schon einmal von einem Hund gebissen wurden. Olga jedenfalls bellt. Und während ich vor Hunden selten Angst habe, verspüre ich in Olgas Gegenwart ein diffuses Unbehagen. Es heißt, dass Insekten einen Atomkrieg überleben würden und wahrscheinlich auch einer milden Form der Apokalypse trotzen könnten. Wenn dies der Fall sein sollte, wären die Ameisen und Schaben nicht allein. Während sie über die Trümmerhaufen der Welt huschen würden, wäre irgendwo ein heiseres und tiefes Bellen zu hören.

ich sehe Dich vor mir, wie Du täglich dort kleine Einkäufe erledigst, wie Du tankst, wie Du heimlich zu Olga blickst und ich lese Deine Worte, die diese Bilder so deutlich entstehen lassen… die bellende Olga mit dem Krawattenrest noch im Mundwinkel und ich bekenne, ich werde um diese Tankstelle einen weiten Bogen machen, aber einmal, da werde ich Mut fassen, mich anschleichen, mit meinem Fotoapparat in Stellung gehen und sie fotografieren – Deine monsterhafte und heiser bellende Olga, die Du so traumhaft gut beschrieben hast.
Ich hoffe sehr, ich werde heute Nacht ohne Albträume schlafen können 🙂
Zu Deinen Worten nun noch einen kleinen Filmbericht und ich wäre aus dem Häuschen vor Freude
LG von Bruni
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Ich glaube, ich hätte Angst, sie zu fotografieren, geschweige denn, ihre teuflische Präsenz auf Video zu bannen. Sie würde mir wohl die Kamera um die Ohren hauen oder sie einfach fressen. Aber vielleicht ist sie auch eine herzensgute Person, die lediglich auf Unbekannte einen furchteinflössenden Eindruck hinterlässt, wer weiss…
Vielen lieben Dank für deine Worte, liebe Bruni, und ich hoffe, die Alpträume bleiben aus…
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