Es gibt keine Perfektion beim Menschen, doch sie konnte sich nicht vorstellen, dass jemand dieser Vollkommenheit näher hätte kommen können als er. Ben. Eigentlich Benjamin, aber Ben passte besser. Er war liebenswert, klug, humorvoll, attraktiv, treu, achtsam, charmant, zärtlich, gefühlvoll, er war all die Adjektive, die Anna genannt hätte, falls sie nach den Attributen ihres Traummannes gefragt worden wäre, und wenn sie ihre entsprechende Aufzählung beendet hätte, wäre er noch immer nicht erschöpfend charakterisiert gewesen.
Sie hätte nicht glücklicher sein können als an seiner Seite, hätte sich keinen wundervolleren Menschen vorstellen können, hätte sich kein wertvolleres Leben ausmalen können als jenes mit ihm, und auch wenn seine Makellosigkeit sie hin und wieder verunsicherte und manchmal kleiner machte, wäre ihr niemals eingefallen, sich auch nur eine Sekunde zu beklagen. Alles wäre einfach nur gut gewesen. Doch der Konjunktiv ist ein Arschloch.
Anna und Ben trafen sich in einem Eiscafé. Es war ein warmer Tag im April, und Anna hatte sich ein Himbeereis gekauft. Bevor sie es jedoch auf ihrer Zunge zergehen lassen konnte, hatte sich eine stämmige Frau mit fettigen Haaren ihren Weg an ihr vorbei gebahnt, dabei ihre eigenen Dimensionen offensichtlich mit zu viel Wohlwollen eingeschätzt und Anna ziemlich heftig angerempelt. Das Himbeereis fiel zu Boden, die üppige Dame stürmte wortlos aus dem Eiscafé, und Anna fluchte leise. Sie bückte sich und versuchte, mit einer dünnen Papierserviette die klebrige Masse vom Laminat zu wischen, als sich jemand neben sie stellte und sich leise räusperte. Sie sah nach oben und erblickte ihn. Ben. In einer Hand hielt er einen feuchten Lappen, in der anderen ein frisches Himbeereis. Anna richtete sich auf, verspürte ein gewisses Schwindelgefühl und hielt sich instinktiv an seinem Arm fest. Ben lächelte, was Annas Schwindelgefühl zwar nicht zerstreuen konnte, es aber auf seltsame Weise angenehmer machte. Er überreichte ihr das Himbeereis, und während sie vergeblich nach Worten oder wenigstens nach einigen Vokalen suchte, wischte er die Überreste des abgestürzten Eisbechers vom Boden.
Was danach folgte, war der typische Handlungsstrang von kitschigen Liebesromanen, in welchem gezeigt werden soll, wie sehr die entsprechenden Protagonisten füreinander bestimmt waren. Anna hasste kitschige Liebesromane. Ihr war das pseudoromantische Vokabular ebenso zuwider wie die wirklichkeitsfernen Entwicklungen bis hin zum Zuckerwattenende. In den Büchern, die Anna las, ließen die Autoren die Hauptpersonen entweder sterben oder mit einer inneren Leere zurück. Doch nun schrieb sie ihren eigenen kitschigen Liebesroman, indem sie ihrem Tagebuch sporadisch von Ben erzählte.
Er war sanft, seine Finger schienen immer genau zu wissen, was sie taten, und ebenso, wonach sich Anna sehnte. Sie waren bereits einige Monate ein Paar, und noch nie hatte sich Anna in ihrem Körper wohler gefühlt als in den Momenten, in denen Ben ihn berührte. Er zeigte großes Verständnis dafür, dass sie bisher noch nicht bereit gewesen war, mit ihm zu schlafen, weder beschwerte er sich noch setzte er sie unter Druck. Doch Anna wusste, dass er sich danach sehnte, sie zu lieben. Und sie sehnte sich nach ihm. Die Mauer in ihr, sie bröckelte immer mehr.
Einmal glaubte Anna, diese Mauer überwunden zu haben. Als sie sich küssten, nahm sie Bens Kopf in beide Hände und nickte vielsagend. Er versicherte sich, ob sie es tatsächlich wolle, und Anna bejahte mit einem leichten Lächeln und dem Schließen ihrer Augen. Während seine Finger scheinbar schwerelos über ihre Haut tanzten, ließ er seine Lippen über ihren Hals gleiten, hin zu ihren Brüsten, dann zu ihrem Bauch. Langsam und vorsichtig streifte er ihren Slip ab und streichelte die Innenseiten ihrer Schenkel. Er streckte seine Hände nach oben, bis sie ihre Brustwarzen bedeckten, und senkte seinen Kopf in ihren Schoss. Anna spürte die Spitze seiner Zunge, das rhythmische Kreisen, und krallte ihre Finger in seine Haare. Sie wollte Ben nach oben ziehen, wollte ihm ins Ohr flüstern, wie sehr sie sich wünschte, ihn tief in ihrem Innern zu fühlen. Nur einen Moment lang öffnete sie die Augen. Und zuckte so heftig zusammen, dass Ben erschrocken zurückwich.
Er stand neben ihrem Bett. Adam. Er stand einfach da, reglos, mit diesem grotesken Grinsen im Gesicht, mit dem kalten Funkeln in den Augen, und starrte sie an. Anna hörte ein grelles Pfeifen in ihren Ohren, unterlegt von einem Rauschen. Die Wände des Raumes schienen zu zittern, Adam hob seine Hände, und Anna presste ihre Augen zusammen. Als sie ihre Lider wieder auseinanderschob, war Adam nicht mehr zu sehen. Doch weg war er nicht. Er war nie weg gewesen.
Sie versuchte, dem verwirrten Ben zu erklären, dass sie im Moment lieber allein sein würde. Er fragte, ob er etwas falsch gemacht habe, und sie schüttelte heftig den Kopf. Nein, überhaupt nichts habe er falsch gemacht. Er sei wundervoll, einfach nur wundervoll, sie liebe ihn über alles. Es habe auch gar nichts mit ihm zu tun, doch sie müsse einfach ein wenig allein sein. Ben fragte nach dem Warum, aber Anna zuckte mit den Schultern. Sie wisse nicht, wie sie es erklären solle, flüsterte sie. Sie wisse nicht, ob sie es überhaupt erklären könne.
Als Ben gegangen war, holte Anna ihr Tagebuch aus dem Regal. Sie blätterte zurück in der Zeit, weit vor den Prolog des kitschigen Liebesromans, so weit, bis sie auf den Namen stieß. Adam. Zu Beginn war alles in dieses gelblich warme Licht getaucht, das einem warmen Herbstmorgen seine unvergleichliche Friedlichkeit verlieh. Auf die ersten zarten Gefühle folgte jedoch bald die Ernüchterung, dann Annas Überzeugung, sich in Adam getäuscht zu haben, und schließlich die zahlreichen Einträge, die davon erzählten, wie Adam sich einfach nahm, wonach er trachtete. Die Herbstlandschaft, sie verschwand im zähen Nebel, und Anna, sie verschwand ebenfalls, verlor die Orientierung und sich selbst. Als der Nebel sich allmählich ein wenig lichtete, hatte sich die Welt verändert, die Bäume waren kahl, der Boden gefroren und hart. Anna stand zitternd und nackt in einem kargen Feld, und irgendwann kam der Schnee, alles wurde stumm, nur das Pfeifen und Rauschen in ihren Ohren blieb.
Sie sah Ben noch einige Male. Er war ruhig, verständnisvoll, sorgsam, und er reagierte auch nicht irritiert, wenn sie sich wiederholt seiner Umarmung entzog. Anna hätte ihm gerne alles erzählt. Sie hätte ihm ihre Narben zeigen wollen, die noch immer brannten, wenn sie von salzigen Tränen benetzt wurden. Sie hätte ihn am liebsten die Tagebucheinträge lesen lassen. Sie hätte in seinen Armen liegen und über ihre Vergangenheit reden wollen, im Wissen, sicher und angekommen zu sein. Nicht alles wäre einfach nur gut gewesen. Aber zumindest der Moment und der Gedanke daran, was danach kommen könnte. Doch der Konjunktiv ist ein Arschloch.
Es ist ein warmer Tag im April. Anna hat sich in einem Eiscafé ein Himbeereis gekauft. Bevor sie es jedoch auf ihrer Zunge zergehen lassen kann, bahnt sich ein stämmiger Mann mit fettigen Haaren seinen Weg an ihr vorbei, schätzt dabei seine eigenen Dimensionen offensichtlich mit zu viel Wohlwollen ein und rempelt Anna ziemlich heftig an. Das Himbeereis fällt zu Boden, und der üppige Herr stürmt wortlos aus dem Eiscafé. Anna blickt sich kurz um. Und dann starrt sie auf die klebrige Masse vor ihren Füssen, die sich langsam auf dem Laminat ausbreitet. Minutenlang, reglos. Irgendwann kommt ein junger Angestellter mit einem feuchten Lappen und wischt die Überreste des abgestürzten Eisbechers vom Boden. Er sagt etwas, doch Anna hört ihn nicht.

Ja, es ist ein Kompliment. Denn Dein Text ist so wahr. Es ist grausam, wenn du aus deiner Haut heraus willst. Und doch nicht kannst. Wenn da etwas ist, gegen das du machtlos bist, das dein Leben so sehr beeinflusst und lenkt, dass dir nur der Konjunktiv bleibt. Aber das Leben ist leider kein Traum. Es ist manchmal grausam. Weil es grausame Menschen gibt.
Wo findest Du all diese Geschichten, die Du erzählst, als würdest Du sie selbst durchlebt haben? Sie sind unglaublich authentisch.
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Ich wünschte, jede der Geschichten wäre einfach nur der Fantasie entsprungen, aber eben, der Konjunktiv… Die grausamen Geschichten sind da, sie geschehen wohl überall, in jedermanns Umfeld, und so, wie man bei den schönen Dingen hinschauen sollte, sollte man wohl auch bei den unschönen Dingen hinschauen…
Vielen Dank dir für deine Gedanken…
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Wow. Dein Text geht an die Nieren.
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Ich hoffe, das ist als Kompliment zu verstehen; in jedem Fall Danke fürs Lesen…
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dieser Konjunktiv, diese Wunschform, die so oft an der Wirklichkeit vorbeigeht…
Wie einfach wäre es, könnten wir unser Herz ausschütten, wenn wir es eigentlich müßten, sollten. Wie einfach wäre so vieles. Und doch schaffen wir es einfach nicht.
Die Worte verweigern sich der Zunge, sie bleiben uns im Halse stecken…
Wieviele Frauen würden heftig mit dem Kopf nicken, könnten sie Deinen Text lesen, lieber Disputnik. Wieviele Erlebnisse halten vom Lieben ab. Die Dunkelziffer ist mit Sicherheit erschreckend…
Du hast die Namen eines berühmten Kinderbuches benutzt. Ich kenne es auch 🙂 und mochte es sehr. Wenn Deine Kinder mal ca. zehn Jahre alt sind, dann werden sie es gerne lesen *lächel*
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Ja, die Dinge der Vergangenheit stellen sich häufig in den Weg, halten vom Sein und vom Leben ab… Vielen lieben Dank fürs Lesen, liebe Bruni, für dein Hineindenken und deine Worte… Und auf Härtlings Ben und Anna in den Händen meiner Kinder freu ich mich schon…
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„doch der Konjunktiv ist ein Arschloch“, was für ein Einfall, lieber Disputnik, grandios alleine schon das! Und weisst du, dass mich deine Geschichte sogleich an Ben liebt Anna vom Peter Härtling erinnert hat, dass ja für junge Leute oft hergenommen wird um sie an die zarte Welt der (auch sexuellen) Liebe heranzuführen?
und noch etwas ist mir beim lesen „aufgegangen“ … Jesus!, wie viel sexuelle „Liebe“ steckt doch alleine schon im Eisschlotzen von der Waffel! *lächel*
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Lieber Finbar, vielen Dank für deine wunderfeinen Worte…
Zu meiner Schande muss ich ja gestehen, dass ich Härtlings Buch bisher gar nicht kannte und somit auch nicht die Namen der Protagonisten. Schöner Zufall, und auch ein schöner zukünftiger Lesetipp für meine Kinder.
Jaha, so ein Eis lässt sich gut in einen sexuellen oder amourösen Kontext stellen (wobei dann lieber Waffeln oder Eiscreme als Eis am Stiel).
Und der Konjunktiv, ja, der kann einem ziemlich viel vermiesen, manchmal gar das Leben, wenn man ihn denn lässt und ihn zu sehr in den Mittelpunkt stellt. Doch am Ende zählt dann eben doch nicht das, was hätte sein können, sondern das, was war und ist…
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ja, das bezweifle ich eben…
denn das IST-Leben ohne Träume
ist doch ein anderes, ungleich unreicheres als
das gleiche IST-Leben mit Träume…
oder meinst du nicht?!
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Doch, natürlich, ein Leben ohne Träume ist ein armes. Träume sind wertvoll und wichtig. Aber das stetige Nachdenken über das, was hätte sein können, das Bereuen und Hadern, es hält im Jetzt halt oftmals vom Leben ab, denke ich…
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