Am frischen Grab ihrer Eltern senkt er seinen Blick. Mit ungewohnt zerbrechlicher Stimme bittet er sie, ihm zu versprechen, niemals jemandem zu erzählen, was er getan hat, ihr angetan hat. Sie überlegt nicht lange, senkt ebenfalls den Blick und gibt das gewünschte Versprechen ab. Dann flieht sie, ein weiteres Mal. Und während sie im Flugzeug sitzt und in ihre neue Heimat fliegt, denkt sie an ihren Bruder, an die beinahe unaussprechlichen Dinge, die er getan hat, und daran, dass sie nun tatsächlich unausgesprochen bleiben sollen. Schließlich weint sie leise, und jemand bringt ihr ein Glas Wasser. Sie wird gefragt, was denn los sei, doch sie schweigt.
Heute, Jahrzehnte später, schweigt sie noch immer. Sie hat es versprochen. Allmählich jedoch tut das Schlucken immer mehr weh, zu sehr. Das Hinunterschlucken der Tränen, das Hinunterschlucken der Wut und des Kummers, das Hinunterschlucken der Bilder. Sie erzählt ihren Kindern vom Versprechen, doch sie bricht es nicht. Das Unaussprechliche bleibt unausgesprochen. Während sie erneut brennende Tränen trinkt, presst sie eine Frage hervor, die unbeantwortet bleibt. Wie soll sie ihn lieben können? Sie müsste doch, schließlich ist er ihr Bruder. Dann versagt die Stimme, und sie schweigt.
Irgendwann wird sie über das Unaussprechliche sprechen können, vielleicht, hoffentlich. Irgendwann wird sie es brechen, das Schweigen, das Versprechen, bevor sie daran zerbricht. Irgendwann, vielleicht, hoffentlich.

die Zeit, es aussprechen zu können, war noch nicht bei ihr angekommen, doch ich denke, sie wird kommen u. dann wird sie sprudeln, alles bricht aus ihr heraus und es wird endlich gut, was ihr wie ein fetter schwarzer Vogel das Licht der Seele verbunkelte
Wenn ich Deine Zeilen lese, dann meine ich, es wird nicht mehr lange dauern. Wie wäre es, dieses Heraussprudeln dann mitzuerleben – hier bei Dir…?
Eine Frage noch. Muß mannn/frau einen Bruder lieben können???
Liebe, die nie gepflegt wurde, verkümmert, anders wäre es meiner Meinung nach unnatürlich. Liebe läßt sich nicht zwingen, ist aber oftmals unbegreiflich *lächel*
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Es wäre schön, wenn es dereinst sprudeln würde, ja, sehr schön… Und natürlich muss man niemanden lieben, auch keinen Bruder, erzwungene Liebe ist wohl keine richtige. Doch gerade bei einem Bruder ist manchmal vielleicht der Gedanke da, dass man doch lieben sollte, schliesslich ist man im Blut verbunden… Auch wenn das wohl nicht reicht, um es tatsächlich zu können… Vielen Dank für deine Gedanken, liebe Bruni…
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wenn sie soooo lange durchgehalten hat, dann muss das nicht zwangsläufig noch erfolgen …
aber auch so wie es ist, ist es in Ordnung…
denn eigentlich ist sie ja daran, was immer es sein mag,
schon längst zerbrochen…
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Nein, es muss nicht noch erfolgen, doch dass sie längst zerbrochen ist, mag ich nicht glauben, höchstens ein Teil von ihr, und wenn sie das Schweigen bricht, wird Zerbrochenes deswegen nicht heil, aber vielleicht wiegt es weniger schwer, wer weiss… Danke für deine Worte, lieber Finbar…
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Das Unaussprechliche trägt sehr schwer und wird mit der Zeit immer schwerer und es bleibt gar nichts anderes übrig, als sich einen Weg zu bahnen, ob mit oder ohne Worte.
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Mit der Zeit wird vielleicht nicht nur das Unaussprechliche schwerer, sondern auch das Aussprechen desselben… Auch wenn es drängt… Weiss nicht… Vielen lieben Dank für deine Gedanken!
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