Da ist ein Kind am Fenster. In der dritten Etage des Hauses auf der anderen Seite der Straße sind drei Zimmer beleuchtet, und in einem davon steht ein Kind am Fenster. Die Umrisse zeichnen sich klar ab, oben der Kopf, dann ein schlanker Rumpf mit angelegten Armen, dann die Beine, die in die tiefliegende Fensterkante zu fließen scheinen. Das Kind steht da und rührt sich nicht. Es steht da schon seit Stunden.
Natürlich ist es kein Kind. Kein Kind könnte über Stunden reglos verharren, und selbst, wenn es dazu in der Lage wäre, würde wohl irgendwann eine erwachsene Aufsichtsperson energisch und belehrend einschreiten. Der Umriss am Fenster ist nur eine optische Täuschung, vielleicht ein Möbelstück oder Kunstwerk, das zufällig eine Silhouette formt, die an ein Kind erinnert. Was es auch immer sein mag, es ist kein Kind. Ganz sicher nicht. Doch was, wenn doch?
Irgendetwas muss geschehen sein. Etwas Furchtbares, etwas, das die Glieder lähmt und den Blick erstarren lässt. Etwas, das dem Körper jedes Leben entzieht und ihn zu einem statischen Objekt formt. Etwas, das der Zeit jegliche Bewegung raubt. Im Raum schweben Staubpartikel, hin und wieder bettet sich eines auf die kühle Haut oder verirrt sich im dünnen Haar. Das Kind atmet lautlos, schluckt leer, manchmal zuckt ein Finger. Es dreht sich nicht um, es wendet seinen Blick nicht ab, denn egal, wo es hinsehen würde, es wäre nichts zu sehen, und selbst ein Regenbogen im Zimmer würde keine Farben tragen. An der Wand hängt eine Uhr, die nicht mehr tickt, der Sekundenzeiger zittert ein wenig, doch er schreitet nicht voran. Auf der Straße vor dem Haus hupt ein Auto, aber das Kind reagiert nicht. Ab und zu trocknen die glasigen Augen aus, dann blinzelt es einige Male. In den anderen Wohnungen gehen allmählich die Lichter aus. Die Stadt schläft. Im letzten hellen Raum steht das Kind am Fenster und rührt sich nicht.
Am nächsten Abend bleibt der Raum in der dritten Etage des Hauses auf der anderen Seite der Straße vollkommen dunkel. Nichts ist zu erkennen, keine Konturen, keine Formen. Alles ist schwarz. In der Finsternis steht ein Kind und starrt aus dem Fenster. Es steht da schon seit Stunden. Vielleicht.

echt cooles bild mit welchen einstellungen hast du es gemacht oder mit welchem programm
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Das Bild ist leider nicht von mir, den Link zur Fotografin findest du direkt unter dem Foto…
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es ist schön, daß Du zurück bist *lächel* und gleich mit so vielen Beiträgen finde ich Dich hier.
…und wenn es ein Kind wäre, es könnte durchaus sein, dann wäre es ein sehr unglückliches Kind, eines, das sich in sich selbst zurückgezogen hst, das nicht mehr am Leben teilnimmt, nur noch in sich selbst exisitiert u. es steht reglos, weil es zu nichts anderem mehr in der Lage ist und es ist entsetzlich, daß es so ist
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Entsetzlich wäre es in der Tat, und so traurig es ist, wenn Erwachsene sich vom Leben entfernen und bloss noch existieren, scheint es bei einem Kind noch viel trauriger… Vielen herzlichen Dank für deine Worte!
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solche „optische“ Täuschungen gibt es immer wieder …
klassisch sind ja diejenigen der Kinder, wenn sie nicht einschlafen können, zumeist im Dunklen und dann alles mögliche sich zusammenreimen beim Umhersehen…
Es freut mich, dass du wieder hier bist, lieber Schreibfreund, irgendwie habe ich dich und deine Kurzgeschichten schon ziemlich vermisst; aber ein Urlaub sei natürlich jedem gegönnt, von Herzen, und so natürlich auch dir *g*
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Die optischen Täuschungen der Kinder mag ich, das Zusammenreimen beim Umhersehen, und mittlerweile machen sie mir auch fast keine Angst mehr…
Danke fürs Urlaubgönnenmögen und fürs Vermissen und gleichfalls…
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ja, auch Mann wird einfach immer erfahrener im längeren Zusammensein mit den eigenen Kindern…das ist der Himmel auf Erden… kaum etwas schafft mehr Reichtum für einen selbst, innerlich wie äußerlich… und bereichert dadurch auch im Feedbackregelkreis gleichermaßen Partnerin und Kinder.
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Wunderbar gesagt/geschrieben, und ausser einem kleinen Wort kann ich dem wohl nichts mehr hinzufügen… Danke!
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Ich wünschte Du würdest mir sagen ob dort ein Kind steht, ich habe es jetzt dreimal gelesen und bin mir nicht sicher..
Wenn es dort so bewegungslos steht, mag ich mir den Grund kaum ausmalen.
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Ich weiss es ja auch nicht, tut mir leid…
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Wie beunruhigend.
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Sofort reift der Wunsch in mir, das Kind aus der Dunkelheit zurück ins Licht zu bringen….
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Sofern es denn da ist…
Danke für deine Worte!
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