Man sagte, sie sei seltsam. Sie sei ein wenig verrückt. Sie habe nicht mehr alle Tassen im Schrank. Man sagte, sie sei ein armes Ding, und es sei doch unglaublich schade, sie sei so eine hübsche junge Frau, und dann das. Man sagte, jemand müsste ihr doch helfen, aber man tat es nicht, man hatte noch ganz andere Sorgen, also ließ man sie in Ruhe, und niemand hörte zu.
Eines Tages saß sie im Garten vor dem Haus, in welchem sie wohnte, und umklammerte ein Cello, als wäre es ein Geliebter. Ihr Blick haftete starr am Boden, sie sprach kein Wort und bewegte sich kaum. Man schüttelte den Kopf, und die alten Damen schauten mitleidig oder verständnislos.
Am nächsten Morgen begann sie zu spielen. Man blieb stehen, denn sie spielte gut. Man erzählte allen davon, und alle kamen. Man hörte zu, man nickte. Es klang schön, da war man sich einig. Als die Nacht kam und sie noch immer spielte, war man sich ebenso einig, dass es nun genug sei, sie solle doch reingehen.
Bald darauf beschied man ihr, dass sie bitte nicht mehr im Garten Cello spielen solle. Sie setzte sich in einen Park, doch die Polizei schickte sie nach Hause. Nach einigen Wochen hatte der Vermieter die Nase und die Ohren voll von den unaufhörlichen Klängen ihres Cellos, also kündigte er ihr die Wohnung. Sie behielt nur einen Stuhl und ihr Instrument, setzte sich auf einen großen Platz und spielte. Man hörte ihr zu, man nickte, warf Münzen vor ihre Füße. Doch schon nach wenigen Tagen kamen erneut Polizisten, und als sie feststellten, dass sie kein Zuhause hatte, holten sie Männer in weißen Kitteln.
Man nahm sie mit und führte sie in ein weißes Zimmer mit weißen Laken in einem weißen Haus. Man schaute immer wieder nach ihr, man fütterte sie mit Brot und Tabletten, aber man verbot ihr, auf dem Cello zu spielen. Sie schwieg, und alles, was man hörte, waren ihre Tränen, die auf den grauen Boden tropften. Eines Morgens brachte man ihr Frühstück, doch sie war nicht in ihrem Zimmer. Man suchte in den Korridoren, in allen Räumen, aber man fand sie nicht. Sie war verschwunden, mit ihrem Cello.
Hin und wieder berichtete man davon, sie gesehen zu haben, beim Joggen oder bei einem Waldspaziergang. Man habe sie zum Mitkommen aufgefordert, doch sie hätte sich gewehrt, und kurze Zeit später war sie nicht mehr an jener Stelle, an der sie gesehen wurde.
Manchmal hört man Melodien im Wald, ein Cello, ihr sanftes Liebkosen der Saiten. Aber man zuckt nur mit den Schultern und sagt, sie sei seltsam. Ein wenig verrückt. So ein armes Ding. So unglaublich schade. So eine hübsche junge Frau, und dann das. Man sagt, jemand müsse ihr doch helfen, aber man tut es nicht. Man könne es nicht. Nein, ihr sei doch nicht mehr zu helfen, und man habe noch ganz andere Sorgen. Also spielt sie weiter, und niemand hört zu.

„[…] Man schaute immer wieder nach ihr, man fütterte sie mit Brot und Tabletten, aber man verbot ihr, auf dem Cello zu spielen. Sie schwieg, und alles, was man hörte, waren ihre Tränen, die auf den grauen Boden tropften. […] “
Das mit den Tränen ist wunderschön formuliert!
Unmenschlichkeit, auch ohne körperliche Gewalt kann einen innerlich auch zugrunde richten und vernichten. Die Abgründe der menschlichen Seele sind bekanntlich sehr tief. Jemandem etwas rauben, das ihm Freude macht, ihn erfüllt, ist seelische Grausamkeit. Leider ist die Situation sehr real, wenn ich da nur an bestimmte Medienberichte zum Beispiel über so manche Altersheimen denke…
Dabei ist die Freude gerade einer der wichtigsten Attribute des Lebens, wenn nicht überhaupt das Wichtigste. Sie im eigenen Leben zu spüren, ist essenziell. Leider haben dies bis jetzt noch nicht viele Menschen verinnerlicht. Es hat etwas mit Selbstachtung und Selbstliebe zu tun. Oft denke ich, wenn viele es schaffen würden, mehr Freude am Leben zu haben, gäbe es vielleicht keine Depression, Burn-out und Ähnliches.
Aber klar, der Druck ist überall zu stark, er kommt von allen Seiten, man muss eben funktionieren, bis man sich zu Tode funktioniert hat. Und dann wird es zu spät sein, für die Freude, die man schon gerne in seinem Leben gehabt hätte, aber leider nie dafür Zeit hatte. Oft nicht einmal dafür, sich selbst darüber Gedanken zu machen, was einem überhaupt im Leben langfristig Freude bereiten würde. Die Menschen setzen sich mit sich selbst zu wenig oder gar nicht auseinander, weil alles schnell gehen muss und anderes immer wichtiger zu sein scheint. Man hat das Gefühl für Ruhe, für Muße verloren.
Zu viel um die Ohren, zu viel in den Köpfen, zu viel Ablenkung von den Dingen, die wirklich wichtig im Leben wären. Viele fühlen sich verloren, sie wissen nicht, wer sie eigentlich sind, sie suchen ständig nach sich selbst, aber finden tun nur die Wenigsten, wonach sie suchten. Das finde ich schade.
Ich wage zu behaupten: Wenn man gefunden hat, was in seinem Leben wahre Freude macht, dann hat man sich selbst gefunden, man braucht nicht länger zu suchen. Aber das ist nur meine persönliche Meinung zum Thema.
Liebe Grüße
Annie H. / Herbststill
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Ich danke dir, fürs Lesen, für deine persönliche Meindung, für deine Worte. Und ja, die Freude, die wahrhaftige Freude, sie trennt wohl das Leben vom Existieren. Ohne Freude, worin auch immer man sie findet, kann’s wohl kein Leben geben, dann ist’s nur noch ein Zeitverstreichenlassen oder dergleichen. Das Finden der Freude, es ist jedoch nicht immer so einfach, wie man glaubt…
Nochmals lieben Dank; deine Worte und die Tatsache, dass du sie hier geschrieben hast, sie freuen mich sehr…
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Gern geschehen! Es hat mir Freude gemacht!
LG
Annie
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Dann freut’s mich umso mehr…
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weitersagen lese ich unter der Geschichte…weitersagen…
da spielt eine Cello, eine, deren ganzes Sein in der Ton-Dimension nachklingt, als ob die Welt auf Saiten gespannt singt, im Zupfen der Töne das ganze Leben klingt, es sei Berufung, sagen die einen, es sei des Teufels persönliche Behufung wollen andre meinen…während Cellotöne weinen, lachen und klagen, ich lausche berührt…
und will davon erzählen, es weitersagen….
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Vielen Dank dir fürs Hinhören, fürs Zuhören, fürs berührte Lauschen, während sie Cello spielte; und vielen lieben Dank fürs Lesen und für deine wunderbaren Worte… Herzliche Grüsse…
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Ein unerhörter Versuch, gehört zu werden.
Ein Klang, der in mir nachklingt…
Sehr berührend!
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Ein wunderbarer Kommentar… Danke dir für deinen Nachklang und deine Worte…
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Es erinnert mich an diverse japanische Filme… solche, bei denen man nachts schlecht einschläft…
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Du schaust eindeutig zu viele Filme, die dich nachts schlecht einschlafen lassen…
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Ja, ja… natürlich. Aber deine Geschichten benutze ich mittlerweile als Ersatzdroge… für Zwischendurch. Ein beunruhigendes Gefühl hat für mich eine eindeutig höhere Wertigkeit als ein dumpf-fröhliches Freudengefühl.
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Ein seltsamschönes Kompliment, danke. Und schön, dass meine Texte als Surrogat für eigenartige japanische Filme dienen…
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Traurig und berührend die Geschichte….leider ein Mangel und Merkmal unserer Zeit, dass genaue Hinhören, Zeit nehmen, sich einlassen auf die Seele des Menschen, anstatt viel zu schnell zu werten, zu urteilen, jemanden ins abseits drängen…
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Ja, beim Werten, Urteilen und Verurteilen scheint man keine Zeit verlieren zu wollen, dabei wäre vielleicht gerade diese Zeit, die man sich nimmt, ein Augenöffner, irgendwie… Vielen Dank für deine Worte…
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Irgendwie hast Du recht…. aber, ich frage mich gerade…. waren die Zeiten je anders? Vielleicht ist es sogar heute in einigen Kulturen anders…. ich weiß gar nicht, ob ich das Verhalten der anderen in der Geschichte bewerten mag…. ist bewerten das richtige Wort….?….Frage mich gerade, ob wir überhaupt unserer eigenen Seele genug zuhören, um denen anderer zuhören zu können, wenn ich das mal so verallgemeinern darf…..
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Die Zeiten, sie waren bestimmt anders, irgendwie, ebenso die Menschen, schon allein durch die wandelnden Umstände und Hintergründe. Das Urteilen und Verurteilen ist aber wohl kaum eine Erfindung der Neuzeit; es entstand wohl zur gleichen Zeit wie der Mensch an sich, und in gewissen Zeiten der Geschichte dürfte es sogar überlebenswichtig gewesen sein. Früher.
Und ja, wahrscheinlich beginnt unsere Hörschwäche oft schon bei uns selbst…
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Dem ist nichts hinzuzufügen! 🙂
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