Der Schlossplatz in St. Petersburg. Bogside in Derry. Der Tian’anmen-Platz in Peking. Der Taksim-Platz in Istanbul. Die Plätze ändern ihre Namen. Was auf ihnen geschieht, bleibt sich gleich. Viele Menschen mit wenig Macht protestieren gegen wenige Menschen mit viel Macht, und die wenigen Menschen untermauern ihre Macht gegenüber den vielen Menschen mit allem, was in ihrer Macht steht. Also Gewalt, in der Regel. Das ist ihre Antwort. Die Frage spielt keine Rolle.
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Sie versteht nicht viel von Politik. Sie hört die Männer in ihren Palästen und hinter ihren Rednerpulten von Dingen erzählen, die nichts mit ihrem Leben zu tun haben. Da sind Ideen eines Staates, in dem sie nicht leben mag, denn so, wie sie ihn beschreiben, kann er ihr kein Zuhause sein. Da sind Maßnahmen, die ihre Freiheit beschneiden, und selbst, wenn die mächtigen Menschen das Wohlmeinende in ihrem Tun beteuern, weiß sie, dass es in Tat und Wahrheit nicht so ist. Sie schweigt und nimmt alles hin, doch irgendwann kommt der Tag, an dem sie aufsteht, der Tag, an dem sie aufschreit. Noch am Abend zuvor lernte sie einen Mann kennen. Er sah gut aus, war witzig und höflich und liebenswert, und sie verbrachten die Nacht zusammen. Am nächsten Morgen küsste er sie zum Abschied, dann ging er, und sie stellte den Fernseher ein, sah wieder die Männer in ihren Palästen und hinter ihren Rednerpulten von Dingen erzählen, die nichts mit ihrem Leben zu tun haben. An jedem anderen Tag hätte sie leise geflucht, mit den Schultern gezuckt und einen bitteren Kaffee getrunken. Heute nicht. Denn eben, heute ist der Tag, an dem sie aufsteht. Sie stellt sich auf einen großen Platz, zusammen mit unzähligen anderen Menschen, und gemeinsam schreien sie gegen die Macht an, verbunden durch ihre Ohnmacht und das Bestreben, etwas zu ändern.
Er versteht nicht viel von Politik. Er hört die Männer in ihren Palästen und hinter ihren Rednerpulten von Dingen erzählen, die nichts mit seinem Leben zu tun haben. Da sind Ideen eines Staates, doch er mag nicht darüber nachdenken, was hinter diesen Ideen steckt. Er ist damit beschäftigt, über die Runden zu kommen, und schließlich sind es genau die mächtigen Menschen, die seine Miete und sein tägliches Brot bezahlen. Er arbeitet für die Polizei, und er tut es mit großem Einsatz, denn ein solcher wird von ihm verlangt, und wenn er ihn nicht leistet, dann wird seine Stelle frei und sein Teller bleibt leer. Am Abend zuvor wäre ihm freilich selbst ein leerer Teller egal gewesen, denn er lernte eine Frau kennen. Sie sah gut aus, war witzig und klug und liebenswert, und sie verbrachten die Nacht zusammen. Am nächsten Morgen küsste er sie zum Abschied, dann ging er zur Arbeit. Er erhielt den Auftrag, sich im Zentrum der Stadt einzufinden. Man erwarte eine Protestkundgebung, sagte man ihm, und man wolle ein solches Auflehnen nicht dulden. Die Demonstrierenden seien zum Schweigen zu bringen, wenn nötig mit Gewalt. Also stellt er sich auf einen großen Platz, zusammen mit unzähligen anderen Polizisten, und gemeinsam hören sie jenen zu, die gegen die Macht anschreien. Irgendwann kommt der Befehl, die Menschenansammlung aufzulösen. Tränengas kommt zum Einsatz, auch Wasserwerfer, und das Wasser, das sie den Protestierenden entgegenschleudern, ist mit Chemikalien versetzt, das die Haut verätzt. Nicht alle lassen sich davon beeindrucken, einige rücken gefährlich weit vor, bedrohen die Polizisten, und er mag sich das nicht gefallen lassen. Er überklebt die Nummer auf seinem Helm, damit sie von den Kameras nicht mehr zu sehen ist, schließlich will er später nicht wegen Anwendung von unverhältnismäßiger Gewalt belangt werden. Dann marschiert er los, mit einem Schlagstock in der Hand.
Sie steht in einem großen Chor, und gemeinsam singen sie die Lieder des Protestes. Als die Polizisten immer näher kommen, wird der Chor lauter, Fäuste werden gereckt, und die Singenden rücken enger zusammen, halten sich an den Händen. Irgendwann kommen die ersten Wolken, dann kommt das Wasser, dann brennt die Haut. Wer noch kann, marschiert weiter, den Uniformierten entgegen. Sie weiß nicht, wer unter den Helmen steckt, doch es ist ihr egal. Sie weiß, dass sie nur Mittel zum Zweck sind, dass sie nur Befehle ausführen, und dennoch wächst in ihr ein gewaltiger Zorn auf diese Menschen, die vielleicht gegen ihre eigenen Nachbarn kämpfen und in rasender Wut und blinder Ohnmacht auf sie einprügeln. Sie kommen immer näher, und das Geschrei und die angsterfüllten Gesichter berühren sie längst nicht mehr, sie treibt einfach mit. Bis sie ein Gesicht in der Menge innehalten lässt. Ein kurzer Augenblick des Erkennens, eine Erinnerung, noch warm in ihrem Innern, das Aufblitzen eines Bildes. Zwei nackte Körper in einem Bett. Dann fällt sie zu Boden.
Er steht in seiner Gruppe, und es ist ziemlich einfach, der Feind ist klar definiert. Wer keine Uniform trägt, ist gegen den Staat und somit gegen ihn, also schlägt er zu, immer wieder, in rasender Wut und blinder Ohnmacht. Wen er trifft, interessiert ihn nicht, es hat keine Bedeutung, und das Geschrei und die angsterfüllten Gesichter berühren ihn längst nicht mehr. Bis sein Schlagstock ein Gesicht trifft, das ihn innehalten lässt. Ein kurzer Augenblick des Erkennens, eine Erinnerung, noch warm in seinem Innern, das Aufblitzen eines Bildes. Zwei nackte Körper in einem Bett. Dann fällt sie zu Boden, die Haut verfärbt sich rot. Er erstarrt, blickt sie ungläubig an, wie sie vor ihm liegt. Alles rauscht, und einen Moment lang friert jede Bewegung ein. Dann wird er überrannt, von seinen Kollegen, die nach vorne drängen.
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Es war am Vorabend, sie saßen nebeneinander auf der kleinen Couch in ihrer Wohnung. Es war still, sie konnten sich gegenseitig atmen hören, niemand sprach, doch das Schweigen, es war gut. Plötzlich ertönte ein lauter Knall vor dem Fenster. Sie zuckte heftig zusammen, und er nahm sie in seine Arme, streichelte sie ganz sanft, und sie legte ihren Kopf auf seine Schulter. Der Lärm der Welt, er war draußen, und hier drin waren nur sie, waren sich nah, und als sie sich ansahen, war da ein kurzer Augenblick des Erkennens, das Aufblitzen eines Bildes. Sie lächelten, sie küssten sich, legten sich in ihr Bett. Als sie nackt und rauchend nebeneinander lagen, war ihr Kopf angenehm leer. Das ist ihre Antwort, dachte sie. Die Frage spielte keine Rolle.

Wenn der Leser glasige Augen bekommt, hat der Schreiber alles richtig gemacht.
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Wenn dem Schreiber nur noch ein Wort bleibt, hat die Kommentierende sehr schön kommentiert… Danke!
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