Er liest ihr vor, aus dem Buch seines Lebens, und sie hört ihm zu, sie hüllt sich ein, in die Decke aus Worten, die er geflissentlich strickt, und jeder Satz, den er von sich gibt, ist ein Satz, den er von sich preisgibt, ein weiterer Pinselstrich auf der Leinwand, und das Bild, es wird klarer mit jedem Wort, es wird reicher und dichter, er redet und erzählt, er betont und unterstreicht, und sie, sie hört ihm zu, als wäre seine Stimme der einzige Klang, den die Welt noch kennt, das einzige Geräusch, nachdem alles verstummt ist, und aus der grauen Masse des Unbekannten bilden sich allmählich Farben und Formen, Muster und Konturen, und die Distanzen werden kleiner, lösen sich auf, und er blättert die Seiten um, er strebt stetig weiter, eilt durch die Zeilen wie ein Wolf durch den Wald, und sie, sie folgt ihm, sie folgt seinen Spuren, zu Beginn noch mit Vorsicht, doch dann voller Eifer, sie gibt sich hinein und er fängt sie auf, und dann, als sie allen Vorbehalten getrotzt hat und ihrer Angst längst entflohen ist, dann greift er an, dann greift er zu und greift sie sich, und während vor ihrem inneren Auge und dahinter alles zerbricht, gräbt er seine Zähne tief in ihr Fleisch, er beißt in den Hals, er entreißt ihr das Leben mit einem einzigen Ruck, und das Blut, ihr Blut, es tropft auf das Buch, es benetzt das Papier, lässt die Worte verschwimmen, und sie liegt am Boden, ein lebloses Etwas, ein unschuldiges Opfer, dabei war sie gewarnt, sie wusste Bescheid, sie war so besonnen, so achtsam, so wachsam, doch der Klang seiner Stimme und das Gewicht seiner Worte, sie ließen sie zweifeln, am Argwohn der Warnenden, an ihren eigenen Ängsten, und sie hörte ihm zu, sie begann zu vertrauen, sie verlor alle Furcht und gab sich ihm hin, und jetzt ist sie tot, liegt schlapp auf der Erde, und er kniet bei ihr, ganz nah, ganz dicht, mit Blut an den Zähnen und der Gier in den Augen, dann klappt er sein Buch zu, lacht noch kurz auf und geht langsam weiter, ein einsamer Wolf im Märchenwald.
dieser raffinierte Fuchs, ähm, Wolf, Lesewolf
Eingehüllt saß sie in seine Leseworte, verlor ihre Scheu, alle Ängste fielen von ihr ab und dann zeigt er sein wahres Begehr. Seine Lust, sie zu fressen überschwemmte ihn
und sein arglistig getäuschtes Opfer blieb auf der Strecke, bzw. am Boden, leblos wie eine zerbrochene Puppe.
Wie gut hast Du Märchen und Realität gemischt, eines so schön und gleichzeitig so grausam wie das andere und ich stelle fest, ich wäre ihm auch auf den Leim gegangen, diesem einsamen Wolf, der nicht existieren kann, wenn er kein Opfer findet…
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…und wie wunderbar hast du meine Geschichte mit deinen Worten bereichert und weitergedacht… Vielen Dank, liebe Bruni…
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wundervolles verwischen/vermischen der märchen- und realtitätsgrenzen…
mann/frau spürt förmlich schon sehr am anfang worauf du hinauswillst…
und ergibt sich freiwillig bis hin zum „Tod“…
und lacht anschliessend zusammen
mit dem lesewolf
*tanz*
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Vielen Dank für Lesen, lieber Finbar, für deine Gedanken und dein freiwilliges Ergeben. Nur das Lachen könnte mitunter im Halse steckenbleiben…
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Ein Märchen, das leider oft viel zu wahr ist. Ich mag diesen Schreibstil. Man hetzt förmlich durch den Wald mit.
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Vielen Dank für deine Worte und fürs Mithetzen durch den Wald (hoffentlich nur im Text)!
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Ja, sich fallen lassen, bedeutet immer ein Risiko eingehen. Auch wenn man noch so vorsichtig ist, kann man hinein tappen, in die Falle. Denn wenn man liebt, ist das Herz offen und verletzlich. Und es gibt immer wieder Menschen, die das Verletzen nicht tangiert.
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Ja, das Risiko ist wohl immer da, und in den meisten Fällen ist es ja auch ein lohnendes. Nur eben dann nicht, wenn man an jene gerät, denen das Verletzen nichts ausmacht oder die daran sogar einen Reiz sehen… Vielen Dank für deine Worte!
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