Niemand konnte genau sagen, wann sie aufgetaucht oder woher sie gekommen war. Plötzlich stand sie da, am Rand des Waldes, neben einem Gehweg. Die vereinzelten Passanten musterten sie mit Blicken voller Neugier und Verwunderung, mitunter mischten sich auch Entrüstung oder eine gewisse Lüsternheit in die Augen der Betrachter. Zu Beginn wagte niemand, sie anzusprechen, nur ein kleines Kind lief zu ihr hin und stieß seinen Finger in ihren nackten Bauch. Sie reagierte nicht und verharrte regungslos in ihrer Position.
Schließlich sammelte eine alte Dame, die jeden Tag dem Wald entlang spazierte, eine ausreichende Menge Mut und näherte sich ihr vorsichtig.
«Entschuldigen Sie, junge Frau. Brauchen Sie Hilfe?»
Die Angesprochene starrte einige Sekunden lang unverändert ins Leere. Dann richtete sie ihren Blick auf die alte Dame und schüttelte langsam ihren Kopf.
«Ist Ihnen nicht kalt? Sie sind ja ganz nackt!»
Erneut schüttelte sie ihren Kopf und schwieg.
Die alte Dame fixierte das seltsame Ding auf dem Kopf der jungen Frau, räusperte sich und wollte eine weitere Frage stellen. Doch dann wandte sie sich unvermittelt ab, murmelte einige Worte vor sich hin und ging mit raschen kleinen Schritten weiter.
In den nächsten Stunden gingen die Menschen an ihr vorüber und ließen zumeist nur ihre Blicke sprechen. Einige wollten von ihr wissen, warum sie denn hier stehe. Ob sie eigentlich verrückt geworden sei, und ob sie sich nicht schäme. Warum sie denn nackt sei. Und warum sie ein Geweih auf dem Kopf trage. Andere schleuderten lediglich einzelne Worte in ihre Richtung. Schlampe. Freak. Spinnerin. Die junge Frau aber, sie schwieg. Ein Büschel ihrer langen roten Haare hatte sich wie ein Knebel über ihren Mund gelegt. Auch sah sie niemanden direkt an, und selbst, wenn sich jemand unmittelbar vor sie hinstellte, schien sie durch ihn hindurch zu blicken. Allmählich dämmerte der Abend, und nachdem die letzten Spaziergänger in ihre Behausungen zurückgekehrt waren, blieb die junge Frau allein in der Dunkelheit einer kühlen Nacht.

Am nächsten Morgen stand sie noch immer am Rand des Waldes, schien sich nicht bewegt zu haben, lediglich ihr Mund war nicht mehr von Haaren bedeckt. Mütter mit ihren Kindern kamen vorbei und bemühten sich, die Augen ihrer Söhne und Töchter so gut wie möglich zu bedecken, damit sie nicht mit der Nacktheit der jungen Frau konfrontiert wurden. Ein Jogger lief an ihr vorüber und ließ sich von ihrer Präsenz so stark ablenken, dass er vom Weg abkam und in einen kleine Graben stolperte.
Ein alter Mann, der am Vortag lediglich kurz stehengeblieben war und sie interessiert gemustert hatte, trat zu ihr hin und streckte ihr eine Flasche mit Wasser entgegen.
«Sie müssen trinken», flüsterte er heiser.
Sie blickte ihn an, öffnete ganz leicht ihren Mund und griff dann nach der Flasche. Hastig trank sie das Wasser, bis auf den letzten Tropfen.
Sie sagte weiterhin kein Wort, doch nachdem sie dem alten Mann die Flasche zurückgegeben hatte, blickte sie ihm direkt in die Augen.
«Gern geschehen.»
Der alte Mann ließ seinen Blick auf ihrem Gesicht ruhen, und die junge Frau schien sich anzustrengen, ihrer Miene keine Regung zu gestatten. Doch als er seine Mundwinkel hob und dadurch einige schiefe Zähne entblößte, konnte auch sie nicht mehr vermeiden, dass sich ein Lächeln auf ihren Lippen zeigte.
Der alte Mann setzte sich auf einen Stein neben ihr und schaute abwechselnd zur jungen Frau und auf die Linien, Flächen und Muster der Landschaft. Die Passanten, die offensichtlich in immer größerer Zahl über den Gehweg schlenderten und mit ihren Fingern auf sie zeigte, würdigten weder sie noch er eines Blickes. Nachdem er lange Zeit stumm auf seinem Stein gesessen war, begann er mit ruhiger Stimme zu sprechen.
«Ich hatte eine Tochter. Sie war wohl in Ihrem Alter.»
Er verstummte kurz, atmete ein, atmete aus.
«Sie ist nicht mehr da. Sie ist nicht gestorben, nein. Aber ich bin gestorben, jedenfalls für sie. Ich weiß nicht, wo sie jetzt ist.»
Erneut erstarb seine Stimme. Er schluckte einige Male leer, holte einen Stofffetzen aus seiner Hosentasche und wischte damit über seine Augen.
«Jeder macht Fehler. Ich habe viele Fehler gemacht. Zu viele vielleicht. Ich habe ihr nie wehgetan, habe sie nie geschlagen. So etwas könnte ich nicht tun. Aber ich war kein guter Vater. Ich war wohl gar kein Vater. Ich weiß nicht, was sie gebraucht hätte. Aber ich weiß, dass ich es nicht geben konnte. Wahrscheinlich habe ich ihr doch wehgetan. Irgendwie.»
Er schluchzte, ganz vorsichtig, er schien darin keine Übung zu haben. Die junge Frau sah ihn an, und als er ihren Blick erwiderte, ließ sie erneut ein Lächeln aufblitzen.
Auf dem Gehweg standen die Passanten und beobachteten das bizarre Gespann. Der alte Mann saß auf dem Stein und redete leise, so leise, dass niemand seine Worte verstehen konnte, nur die junge Frau, die nackt neben ihm stand und ein Geweih auf dem Kopf trug. Einige Menschen machten Fotos. Ein Hund bellte, und ein korrekt gekleideter junger Mann drohte damit, die Polizei anzurufen. Niemand wagte, sich den beiden zu nähern.
«Ich will Sie nicht mit Fragen belästigen», sagte der alte Mann nach langem Schweigen. «Aber ich würde doch gerne wissen, warum Sie hier sind. Ist das ein Protest?»
Die junge Frau schwieg, ließ aber ganz leicht ihren Kopf sinken und hob ihn wieder an.
«Wogegen protestieren Sie? Oder wofür? Für den Tierschutz? Wegen dem Geweih, meine ich.»
Sie schüttelte langsam den Kopf.
«Ist das Kunst? Nein? Geht es um Politik?»
Das Geweih wackelte erneut.
«Die Gesellschaft? Die Freiheit?»
Dieses Mal blieb der Kopf ungeschüttelt.
«Das Leben? Naja, ist eigentlich egal. Es geht mich vielleicht gar nichts an. Aber ich finde gut, was Sie da machen. Was auch immer es ist. Die Leute reden viel zu viel und machen viel zu wenig. Sie hingegen reden gar nicht. Aber Sie machen etwas. Das ist schön.»
Noch einmal begann der alte Mann, von seiner Tochter zu erzählen, dann von seiner Frau, dann von einem alten Freund, der kürzlich gestorben war. Er schilderte, wie er sein erstes Auto gekauft hatte und meinte dann, dass er mittlerweile zu alt sei, um überhaupt noch zu fahren. Er redete und gestikulierte, und die junge Frau, sie hörte zu, ohne ein Wort zu sagen. Ihn schien es nicht zu stören.
Als es bereits dunkel wurde, verabschiedete sich der alte Mann von der jungen Frau. Er versprach, am nächsten Tag etwas Essbares und Getränke mitzubringen. Bevor er sich auf den Heimweg machte, trat er zu ihr hin und griff nach ihrer Hand. Mit knochigen Fingern streichelte er ihre Haut. Schließlich drückte er ihr einen Kuss auf den Handrücken und ging.
***
Die Sonne stand noch nicht lange am Himmel, als der alte Mann am nächsten Morgen zurückkehrte. Seine zuerst noch schnellen Schritte wurden aber immer langsamer, je näher er der besagten Stelle kam. Irgendwann ließ er die Papiertüte, die er bei sich trug, zu Boden fallen.
Die ersten Spaziergänger tauchten auf, doch sie gingen vorüber, ohne ihn zu beachten. Es gab auch gar nicht viel zu sehen. Ein alter Mann, der im Gras kniete, vor einem Ding, das aussah wie ein großes Geweih. Ein junges Paar blieb kurz stehen und fragte ihn, ob alles in Ordnung sei.
«Nein, es ist nicht alles in Ordnung», gab der alte Mann zurück, stand unter Anstrengungen auf und strich sich mit dem Handrücken eine Träne aus dem Augenwinkel.
«Es ist nicht alles in Ordnung», wiederholte er, und zwischen seinen Lippen blitzten schiefe Zähne auf. «Das ist es nie. Aber es geht schon. Ich habe etwas verloren. Und etwas gefunden.»
«Das Geweih? Sie meinen, Sie haben das Geweih gefunden?» wollte der junge Mann wissen.
«Ja, ja», erwiderte der alte Mann lächelnd. «Ja, ich habe das Geweih gefunden. Es ist schön, nicht wahr?»
«Ja, ganz toll», sagte die junge Frau knapp und gab ihrem Begleiter zu verstehen, dass sie ihren Spaziergang gerne fortsetzen würde.
Als sie gegangen waren, kniete sich der alte Mann wieder hin und berührte mit zitternden Fingern das Geweih, das vor ihm im Gras lag. Er hob es vorsichtig hoch und war überrascht, wie schwer es war. Langsam ertastete er die verwinkelten Formen, drehte das Geweih in seinen Händen, roch daran.
***
Niemand konnte genau sagen, wann er aufgetaucht oder woher er gekommen war. Plötzlich stand er da, am Rand des Waldes, neben einem Gehweg. Die vereinzelten Passanten musterten ihn mit Blicken voller Neugier und Verwunderung, mitunter mischten sich auch Entrüstung oder ein gewisser Widerwille in die Augen der Betrachter. Niemand wagte, ihn anzusprechen, nur ein kleines Kind lief zu ihm hin und stieß seinen Finger in seinen nackten Bauch. Er reagierte nicht und verharrte regungslos in seiner Position.
Hat dies auf Hartmut Gülink rebloggt.
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Gänsehaut…Was mich interessieren würde: Hast Du die Begebenheit nach dem Bild erzählt oder andersherum? Wie auch immer…Danke dafür, Julia
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Vielen lieben Dank für deine Worte! Zu deiner Frage; zuerst kam die grundsätzliche Idee zur Geschichte und erste Ansätze, dann das Bild, daraufhin noch die dazu passenden Elemente im Text, irgendwie…
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