Er kam jeden Vormittag um elf Uhr fünfundzwanzig. Nicht vierundzwanzig, nicht sechsundzwanzig. Genau elf Uhr fünfundzwanzig, jeden Tag, von Montag bis Freitag, und die Atomuhr, sie mag das Uhrzeitdiktat für sich beanspruchen, will genauer sein als alle anderen Uhren, doch gegen seine Präzision hätte sie nichts ausrichten können. Er war die Definition von Pünktlichkeit in menschlicher Form. Und er war unser Postbote.
Dass er ein buchstäblich verlässlicher Zeitgenosse war, schien umso erstaunlicher in Anbetracht der unleugbaren Tatsache, dass er eine innige Freundschaft zu hochprozentiger Flüssignahrung pflegte. Wenn er kam, jeden Vormittag um elf Uhr fünfundzwanzig, schob er eine von Alkohol geschwängerte Wolke vor sich her, dass jeder, der ihm begegnete, unweigerlich zurückwich und nach einer imaginären Atemschutzmaske tastete. Dieser Umstand verhinderte unter anderem, dass er von redseligen alten Damen in zähflüssige und zeitraubende Gespräche von ausgesuchter Banalität verstrickt wurde, was wiederum seine Pünktlichkeit zweifellos begünstigte. Doch seine offensichtliche Trinkfreudigkeit war längst nicht der einzige Grund, weshalb ihn eigentlich niemand wirklich mochte.
Er sah ungepflegt aus. Er roch nicht nur nach Alkohol, sondern auch nach der beharrlichen Vernachlässigung einer grundlegenden Körperhygiene. Er stellte sein gelbes Kleinmotorrad mitten auf die Gehwege und ließ den stinkenden Motor laufend laufen. Seine schweißnassen Hände ließen die zugestellten Zeitungen Wellen werfen, und wenn er Briefe in die Briefkastenschlitze schob, schien er sie vorgängig zu zerknüllen, zumindest sahen sie danach aus. Er grüßte kaum und wirkte so umfassend unfreundlich, dass sich niemand veranlasst sah, sich in einem Anflug von geheucheltem Interesse nach seinem Namen zu erkundigen. Er war niemandem sympathisch. Aber er war pünktlich. Er kam jeden Tag, von Montag bis Freitag, um elf Uhr fünfundzwanzig. Bis er eines Tages nicht mehr kam.
Er sei gestorben, erklärte sein Nachfolger, ein reizender junger Mann mit gewinnendem Wesen und akkurat geschnittenem Schnurrbart. Woran er gestorben sei, nein, das wisse er leider nicht. Er war äußerst umgänglich, der junge Mann, humorvoll und jederzeit für einen kleinen Schwatz zu haben. Die alten Damen schätzten das. Doch auch sie fielen in den allgemeinen Kanon ein, dass es nicht mehr so war wie früher. Ja, früher, da war alles besser, klagten sie, damals, mit dem alten Postboten. Denn so freundlich der junge Mann auch sein mochte, mit der Uhrzeit schien er nicht innig verbunden zu sein. Der große Zeiger, der kleine Zeiger und ihre gemeinsame Aussagekraft; er ignorierte sie einfach. Manchmal kam er um elf Uhr zehn, dann wieder erst um kurz vor zwölf, hin und wieder sogar noch später. Und nie war er da, als sich die Menschen um elf Uhr fünfundzwanzig vor ihren Eingängen versammelten, über den Wert der Pünktlichkeit und die guten alten Zeiten diskutierten. Sie taten es einige Wochen lang, und irgendwann hörten sie auf. Standen nur noch an den Fenstern und blickten wartend hinaus, um elf Uhr fünfundzwanzig, jeden Tag, von Montag bis Freitag.

Ich frage mich… tragt ihr noch eine Armbanduhr? Ich habe meine vor 15 Jahren entsorgt. Es war fast wie das Abwerfen einer sklavischen Fessel. Herrlich. So nackt.
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Ich bin wohl schon seit vergleichbar langer Zeit nackt. Und ja, es ist herrlich. Ungebunden.
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vieles hat sich ja im Lauf der Zeit geändert,
vor allem auch durch PC und Handy,
aber was fest verankert geblieben ist,
im hier und jetzt, das ist die Pünktlichkeit,
vielleicht sogar wichtiger denn je!
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Vielen Dank für deine Worte, lieber Finbar… Ja, wir klammern uns sehr und immer mehr an die Zeit, die Uhrzeit. Und doch, hin und wieder zeitlos zu sein hat seinen Reiz.
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zeitlos zu sein
ist überirdisches erleben
ein sanftes schweben
im kosmos
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wobei auch die ganz und gar irdische Zeitlosigkeit durchaus angenehm sein kann…
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