Es war Mitte der 1980er Jahre, und zu all jenen Kompetenzen, die mir damals als schüchterner Grundschüler fehlten, zählte die Fähigkeit, die Bedeutung und die Dimensionen von AIDS auch nur ansatzweise erfassen zu können. In meinen Augen war es eine furchtbare Krankheit, die mit dem Tod endete. Das Wort Tod war derweil ebenso ominös. Ich wusste immerhin, dass es eine schlimme Sache war. Dennoch fühlte ich mich nicht von Furcht erfüllt. Ich hatte keine Angst vor AIDS.
Einige Kinder an der Schule waren offensichtlich besser informiert als ich und gingen irgendwie pragmatischer mit dem Thema um. AIDS sei die Abkürzung von Ab in den Sarg, lachten sie. Ich fand es nicht lustig, doch ich lachte mit, schließlich wollte ich meine mangelnden Kenntnisse der Materie so gut wie möglich kaschieren, zudem war ich nicht sicher, was ein Ausbleiben des Lachens bedeutet hätte, denn vor manchen älteren Schülern hatte ich durchaus Respekt, wenn auch keine Furcht. Ich hatte keine Angst vor den Kindern.
Eines Tages erzählte mir meine Mutter, dass ein ehemaliger Nachbar an AIDS erkrankt war. Ich kannte ihn nicht, konnte mich nicht erinnern, ihn je gesehen zu haben, doch offenbar war er in die Drogenszene geraten und hatte sich wohl über eine Spritze infiziert. Während meine Mutter emsig erklärte, erhielt der Begriff AIDS allmählich mehr Substanz für mich, wurde klarer und greifbarer. Trotzdem wusste ich noch immer sehr wenig darüber, ganz im Gegensatz zu Frau Neubauer, die diesen Namen hier nur trägt, weil ich ihren wahren Namen vergessen habe. Frau Neubauer wohnte einige Häuser entfernt und war eine kleine und wütende Person. Besonders wütend schien sie auf unseren ehemaligen Nachbarn zu sein. Der sei halt ein Schwuler, dem geschehe es ganz recht, dass er nun AIDS habe. Als man ihr mitteilte, dass wohl eher die Drogen zur Ansteckung geführt hätten, reagierte sie nur noch wütender und meinte, dass es in diesem Fall ja noch abscheulicher wäre, der Schwule sei also auch noch einer dieser Süchtigen, der habe es ja richtiggehend auf AIDS abgesehen. Einen Moment lang schien es, als könne Frau Neubauer zumindest der Mutter unseres ehemaligen Nachbarn ein wenig Mitgefühl entgegenbringen, doch umgehend hatte sie in eben dieser Mutter die Wurzel des Problems erkannt. Als Kind einer solchen Frau hätte ja sowieso nichts Gescheites aus ihm werden können.
Mir tat er irgendwie leid, der ehemalige Nachbar, obschon ich ihn nicht kannte. AIDS wurde in der Folge in gewisser Hinsicht zu einem Gespenst, nicht nur für mich. Doch tatsächlich Angst hatte ich davor noch immer nicht. Wirklich Angst hatte ich nur vor Frau Neubauer.

Ich habe Dich für den Best Blog Award nominiert. Auf meiner Seite findest Du die Hinweise zur weiteren Vorgehensweise.
LikeLike
Vielen Dank! Allerdings bin ich hierfür wohl nicht sonderlich gut geeignet, oder sehr viele Blogger sind sehr viel besser geeignet. Ich hoffe, du bist mir nicht böse, wenn ich dankend ablehne…
LikeLike
Nö…alles gut.
LikeLike
Frau Neubauer wird irgendwann einsam sterben…
LikeLike
Wahrscheinlich wird sie auch einsam gelebt haben.
LikeLike
ja die frau neubauers sind krankheiten, die scheinbar gegen jegliches gegengift immun sind…
LikeLike
Jaha, die Neubauers sind eine Seuche, und sie sind überall. Immerhin sind sie in der Regel nicht ansteckend…
LikeLike
Doch, sind sie. Sie finden immer gefällige Lauscher und dusselige Münder, die nachplappern.
LikeLike
Eine eigene Meinung ist eine gute Impfung.
LikeLike