Zum ersten Mal traf ich Matthias in der Berufsschule. Ich trug eines jener T-Shirts, auf welchem ein Strichmännchen aufgedruckt ist, das ein Hakenkreuz in einen Papierkorb wirft. Ich trug es wohl, weil ich wenig sprach und dennoch etwas sagen wollte. Jedenfalls kam er zu mir hin und fragte mich, ob ich wirklich gegen Nazis sei. Ich bejahte. Er wollte wissen, ob ich es denn gut fände, wenn all die Türken und Jugos in unser Land kämen und unsere Frauen vergewaltigten. Ich verneinte, meinte dabei den zweiten Teil und war danach ein wenig sprachlos, vielleicht weil ich darüber nachdachte, welche seiner beiden Fragen in meinen Ohren stupider klang oder mich mehr verwirrt hatte. Er zitierte dann irgendwann – ohne jede Ironie, denn die war damals noch nicht erfunden – einen Liedtext von Störkraft, um seine Position zu verdeutlichen. Es wäre nicht nötig gewesen.
Zwar ging er nicht in die gleiche Klasse wie ich, doch Matthias war der Freund eines Freundes, der seinerseits die Schulbank mit mir teilte, darum sahen wir uns relativ häufig, in den Pausen und nach der Schule. Matthias war eigentlich ein ziemlich umgänglicher Mensch, weder laut noch aggressiv, und man konnte sich durchaus gut mit ihm unterhalten, wobei wir wohl beide unbewusst vermieden, das Gespräch auf politische Themen zu lenken. Dennoch blieb er für mich vor allem der Junge, der nicht verstand, wie man gegen Nazis sein konnte, ein Junge, in dessen Gesicht ich stets einen großen braunen Fleck sah.
Einige Jahre später wurde er mir als neuer Mitarbeiter bei der kleinen Bank vorgestellt, bei welcher ich damals meine Tage fristete. Matthias hatte sich äußerlich ein wenig verändert, sein Gesicht war etwas kantiger geworden, und er trug Lederjacke statt Jeansjacke. Vielleicht hätte ich mich spätestens jetzt, mit einigen zusätzlichen Jahren im Rucksack, mit lauter Stimme und absoluter Entschiedenheit jeglichen nazistischen Tendenzen in den Weg stellen sollen, die er offenbar verinnerlicht hatte, doch ich tat es nicht, und abgesehen von einigen kurzen Kommentaren mit rassistischem Unterton, die ich mit einem Kopfschütteln quittierte, vermied Matthias eine entsprechende Thematisierung.
Der braune Fleck in seinem Gesicht war noch da, doch er war kleiner geworden, und ich blieb nur noch selten an ihm hängen. Er stand auch nicht im Weg, wenn wir miteinander redeten, was wir ziemlich oft taten, auch nach der Arbeit, vor allem, weil Matthias und ich den Musikgeschmack und die Vorliebe für ein gewisses Kraut teilten. Ziemlich häufig saßen wir kiffend in seinem Auto und hörten Musik. Störkraft lief nie.
Als er seine Stelle kündigte, war ich ein wenig betrübt, denn ich mochte ihn, den Jungen mit dem braunen Fleck im Gesicht. Zwar sahen wir uns danach hin und wieder, aber immer sporadischer. Manchmal begegneten wir uns in der Stadt und wechselten einige flüchtige Worte. Doch es blieb bei banalen Fragmenten des Alltags.
Eines Tages, ich hatte Matthias bestimmt zwei Jahre lang nicht gesehen, liefen wir uns wieder über den Weg. Es war herbstlich kalt in den Gassen der Stadt, doch sein Gesicht war makellos braungebrannt. Wir rauchten gemeinsam eine Zigarette und kramten beide in der jüngeren Vergangenheit nach Erwähnenswertem. Ich erzählte von Frau und Kind, und Matthias meinte, dass er ebenfalls demnächst heiraten werde. Er sei lange Zeit gereist, vor allem nach Asien, und diese neuen Orte und Begegnungen hätten ihm die Augen geöffnet, seinen Blick auf die Welt verändert. Er habe auf seiner Reise – vielleicht in Laos oder Vietnam, vielleicht auch auf den Philippinen, ich weiß es nicht mehr – eine Frau kennen und lieben gelernt. Sie komme in den nächsten Tagen hierher, und dann wollten sie möglichst bald heiraten. Ich war erschüttert, im besten Sinne, und gratulierte ihm. Bevor wir uns verabschiedeten, meinte er noch, er könne sich nicht erklären, wie er es so lange mit seinem beschränkten Horizont ausgehalten habe. Ich lächelte und blickte lange in sein Gesicht, als würde ich etwas suchen, was ich wohl auch tat. Das Gesuchte fand ich nicht. Da war einfach nur sein Gesicht.

Schade, dass es nicht mehr Menschen schaffen ihren Horizont zu erweitern.
Es reicht ja schon, andere Teile von Deutschland kennen zu lernen oder mit anderen Menschen ins Gespräch zu kommen.
Aber offensichtlich ist es dafür nie zu spät. Schöner Artikel.
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Vielen Liebdank für deinen Kommentar… Ja, ist schade, dass die Horizonterweiterung nicht immer gelingt. Aber immerhin manchmal, nicht selten auch im Kleinen…
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Reblogged this on Blog-Inkarnation und kommentierte:
Reisen in äußere Räume ermöglicht auch das Entdecken des eigenen Fremden, der eigenen inneren Tiefen – und weitet Herz und Verstand. Dazu ein Zitat aus ‘Nachtzug nach Lissabon’(S. 286) in einer ‘Negativ-Formulierung’: “(…) Weil sie sich, indem sie sich äußerlich nicht ausbreiten können, auch innerlich nicht auszudehnen vermögen, sie können sich nicht vervielfältigen, und so ist ihnen die Möglichkeit genommen, weitläufige Ausflüge in sich selbst zu unternehmen und zu entdecken, wer und was anderes sie auch hätten werden können.” Matthias hat diese Entdeckung machen können – zu seinem und unserem Glück.
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Reisen in äußere Räume ermöglicht auch das Entdecken des eigenen Fremden, der eigenen inneren Tiefen – und weitet Herz und Verstand. Dazu ein Zitat aus ‚Nachtzug nach Lissabon'(S. 286) in einer ‚Negativ-Formulierung‘: „(…) Weil sie sich, indem sie sich äußerlich nicht ausbreiten können, auch innerlich nicht auszudehnen vermögen, sie können sich nicht vervielfältigen, und so ist ihnen die Möglichkeit genommen, weitläufige Ausflüge in sich selbst zu unternehmen und zu entdecken, wer und was anderes sie auch hätten werden können.“ Matthias hat diese Entdeckung machen können – zu seinem und unserem Glück.
Gruß
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Feines Zitat, lieber Wolfgang… Vielen Dank dafür, und fürs Weiterdenken und Kommentieren und Rebloggen…
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es ist also doch möglich
einen brauen fleck
im gesicht
oder wo auch immer
im lauf der zeit
wieder getilgt zu bekommen
wind wetter sonne und liebe
sind dbzgl. sehr gute medikamente
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Lieber Finbar, danke für deine Worte. Jaha, WindWetterSonne und Liebe können in vielen Fällen sehr gute Medikamente sein, neue Aussichten ebenfalls. Wie gut die braunen Flecken in der Regel weggehen, weiss ich nicht genau, oftmals bleiben sie ewig, aber hier gelang es und freute mich sehr. Von alleine verschwinden sie aber kaum, man muss die Medikamente wohl suchen gehen, irgendwo irgendwie.
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