Das Leben war dort draußen, die Stunden hingen in den Räumen, die Tage schlichen achtlos und müde über die Fassaden der Welt, als sie aufhörte, sich zu behaupten und zu erklären. Betäubt lief sie los, hinaus aus dem Haus und der Stadt und hinein in den Wald, hinein in das Feuchte und Dunkle, das Ungewisse. Still und starr streifte sie ihre Kleider von den steifen Gliedern, bis nur noch Luft sie umhüllte. Sie stolperte über Wurzeln und verfing sich im Gestrüpp eines fremden Universums, verlor sich in einem Dickicht der vagen Vermutungen. Antworten suchte sie nicht, denn da waren keine Fragen.
Es gab keinen Grund, nur den Boden unter ihr.
Sie setzte sich hin und malte mit ihren Zehen kleine Kreise und Linien in die weiche Erde, ein primitives Gemälde von Zeit und Distanz. Als der Wind allmählich kühler durch den Forst drang, ließ sie ihre Hände über ihre Haut gleiten, immer schneller. Sie legte sich auf die Skizzen unter ihr, verwischte die Bilder, bis nur ihr Körper übrig blieb. Als das Licht zu schwinden begann, verschenkte sie ihr Fleisch an hungrige Geister, ließ sie im Glauben, sie hätten sie ganz in ihren Klauen. Sie schloss ihre Augen und klammerte sich an die konturlosen Flecken in dunkler Farbe, die stetig ihre Form änderten. Irgendetwas pulsierte, doch es war nicht ihr Blut, nicht ihr Herz, nur ein dumpfes Pochen im Leib, und sie spürte es, ohne zu fühlen. Schließlich strömte die Schwärze in die Welt, das letzte Leuchten wich aus jedem Winkel. Der Atem tastete sich immer langsamer durch ihren Hals, einzelne Muskeln zuckten, doch sie erschrak nicht. Dann verschwand die Zeit.
Irgendwann kehrte die Helligkeit zurück in den Wald, die Geräusche erwachten neu, und sie schlug die Augen auf. Das Leben war noch immer dort draußen, die Stunden hingen in den Bäumen, doch sie musste sich nicht behaupten, nicht erklären. Betäubt blieb sie liegen, irgendwo im Feuchten und Dunklen, im Ungewissen.
Es gab keinen Grund, nur den Boden unter ihr.

nackt
auf dem waldboden
sich mit ihm vereinen wollen
trotz allem
wiedergeboren werden
nach dem vereinen
alle selbstzweifel
im waldboden
zurücklassen
nackt
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Eine wunderschöne Erwiderung und Ergänzung zum Text! Vielen Dank, lieber Finbar…
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Wow, wie immer eine Freude deine Kurzgeschichten zu lesen!
Irgendwie erinnert mich die beschriebene Leere und die nicht vorhandene Zeit an Samuel Becketts ‚Endspiel‘.
Hier gäbe es jedoch noch Hoffnung, wenn sie sich wieder aufrappeln und leben würde.
Liebe Grüße!
PS: Die Kombination deiner Worte mit einem aussagekräftigen Bild gefällt mir auch immer sehr gut!
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Vielen lieben Dank für deinen Kommentar! Schön, dass dich der Text ans Endspiel erinnert, auch wenn ich keinen kleinen Beckett im Hinterkopf hatte. Ja, ein bisschen mehr Hoffnung gibt es hier, wenngleich das Aufrappeln eben nicht immer reicht… Nochmals Liebdank für deine Worte und liebe Grüße…
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