Sie will liegen, wo noch niemand lag. Sie will tun, was ungetan geblieben ist, will unterlassen, was sich kaum vermeiden lässt. Sie will auf Bäume klettern und in Seen tauchen und auf Feldern sitzen, und sie will immer zuerst dort sein, als einziges Wesen, ohne Beispiel. Sie will hinaus aufs Meer und hinein in den Vulkan, will höher als zum Himmel und tiefer als zur Hölle. Sie will sich in die Erde graben und auf steinernen Flächen ruhen, will ihren Körper in neue Positionen fügen. Sie will lieben, was ungeliebt ist, will lieben, wie sonst niemand liebt, will lieben, ohne in den Kanon der Liebenden einzustimmen, will lieben und geliebt werden, wie kein anderer Mensch geliebt wird. Sie will anders sein, anders als die anderen, anders als jene, die sich gleichen bis aufs Haar. Sie will entfliehen, dem Korsett und den Regeln, sie will leben, wie niemand sonst leben könnte, wider die Konventionen und gegen den Strom, gegen den Strom, gegen den Strom. Jeden Strom.
Dass alle Menschen gleich sein sollen, mag sich ihr nicht erschließen, denn wären alle gleich, ließe sich jeder Mensch ersetzen, nach Belieben austauschen, und nein, Austauschbarkeit erträgt sie nicht und versteht nicht, wie sie jemand ertragen könnte, und sie kämpft gegen die Schablonen, in die man gepresst wird, kämpft gegen die Prinzipien, denen man Treue zu schwören habe, sie kämpft mit aller Kraft gegen den Strom, und nun liegt sie da, im kalten Wasser, jeder Tropfen sticht sie ins Mark, sie friert, ist starr und steif, kann sich kaum regen, sie ist weit weg von den anderen, was sie eigentlich gewollt hat, aber eben nicht so, und sie ist auch weit weg von ihr selbst, hat sich verloren beim Versuch, sich zu finden, zu erfinden, und das, was sie eigentlich vermeiden wollte, geschieht irgendwann doch, der Strom, gegen den sie sich sträubte, er formt ihre Persönlichkeit wie der Fluss den Stein, trägt die Ecken und Kanten ab, macht sie stumpf, und zwar liegt sie nun, wo noch niemand lag, aber die steinerne Fläche, auf der sie ruhen wollte, ist sie selbst, und der Strom reißt die Tränen mit.

Es gibt nur wenige Geschichten, an die (oder zumindest an deren Bedeutung) ich mich auch noch Jahren noch erinnern kann. Diese hier ist eine davon.
Ich bin froh, dass ich sie heute wiederfinden konnte!
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Und ich bin noch viel froher, dass du sie wiederfinden mochtest! Vielen lieben Dank dir fürs (nochmalige) Lesen und für deine Worte!
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wer will nicht
gegen den strom leben
gegen den strom lieben
gegen den strom sterben?
ich nicht!
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Im eigenen Strom sein, in einem gemeinsamen Strom leben, Gegenströme zulassen, aber stets selbst entscheiden, wie und wohin man fliessen möchte.
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sie hat es also nicht geschafft, sich diese Besonderheit zu erhalten.
Sie schaffte es nicht, dieses Überwesen zu sein, als das sie sich selbst sah.
Sie wurde zu Stein, nachdem das Leben alle ihre „Ecken und Kanten „abgeschliffen hatte.
Es riß sie mit, aber nicht ins Leben, es riß sie mit in ihren eigenen Tod.
Nichts blieb übrig von ihr, nicht mal ein Abdruck ihrer Seele.
Nachdem ihr Ich verblasste, war sie verwundbar,
als wäre sie ein Lindenblatt gewesen
und vom Leben nie mehr genesen…
War das die Aussage Deines Textes?
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Liebe Bruni, vielen Dank für deine Gedanken… Eine feststehende Aussage mag ich eigentlich gar nicht definieren, doch deine Deutung, sie macht natürlich Sinn. Grundsätzlich ging es mir um eine Person, die so sehr versucht, einzigartig zu sein, anders als die anderen, dass sie dabei den Bezug zur Restwelt und zu sich selbst verliert. Sie strebt krampfhaft nach Individualität, doch am Ende höhlt es sie aus, macht sie stumpf. Das verblasste Ich, das du erwähnst, trifft es also ganz gut. Aber eben, man kann gern auch etwas anderes herauslesen, wenn man mag, oder gar nichts.
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Beeindruckend, wie du es vermagst, dich in die Sichtweise einer Frau zu versetzen. Hat schon etwas Bizarres …
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Lieben Dank für deinen Kommentar! Wie gut ich in der Lage bin, mich in eine Frau zu versetzen, mag ich nicht beurteilen, aber deine Aussage, sie freut mich natürlich. Zum Text muss ich jedoch einwenden, dass er zwar durchaus von einer Frau handelt, jedoch wohl nicht viel anders aussehen würde, wenn der Protagonist männlich wäre. Der Drang nach Individualismus ist ja auch nicht per se eine Angewohnheit von Frauen, denke ich… Trotzdem nochmals Danke…
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