Alles beginnt mit der Frage, ob Buchstaben eigentlich erschrecken, wenn man eine Seite aufschlägt, und die Frage, sie ist natürlich berechtigt, so berechtigt, dass sie eine Antwort verdient, oder zumindest den Versuch einer Antwort, denn absolute Antworten sind selten und meistens auch ziemlich langweilig, darum hier also der Versuch einer Antwort, ganz kurz, nur ein Satz, um die ganze komplexe Thematik auf den Punkt zu bringen, und vielleicht sollte man beim Aufschlagen an sich beginnen, dieser grundlegenden Tätigkeit, wobei zu bedenken ist, dass sich unzählige Dinge aufschlagen lassen, zum Beispiel ein Telefonbuch, wenn man Lust auf Pizza hat oder einen Spezialarzt für vaginale Trockenheit sucht, oder aber man schlägt endlich einen Roman auf, den alle Welt für unglaublich toll befindet, den man jedoch noch immer nicht gelesen hat, deshalb immer stumm auf der Unterlippe kauen muss, wenn in einer Gesprächsrunde darüber geredet wird, und nun nicht mehr schweigen mag, und aufschlagen kann man auch die Bibel oder eine Frauenzeitschrift, so groß ist der Unterschied vielleicht gar nicht, doch nicht nur Lesestoff lässt sich aufschlagen, man kann auch Eier hervorragend aufschlagen, aber nicht mehr als zwei oder drei pro Woche, wegen dem Cholesterin, und die stets gut gelaunte Rosalia aus Mexiko, sie schlägt die Bettdecke im Hotelzimmer auf und legt einige leckere Pralinen auf das Kissen, die etwa so viel kosten wie sie in einer Stunde verdient, aber Rosalia beschwert sich nicht, sondern schlägt abends zu Hause die Bibel oder eine Frauenzeitschrift auf und vergisst die Eier in der Pfanne, und auch beim Tennis wird aufgeschlagen, und wenn der Roger Federer es mal in Wimbledon tut, also auf dem dortigen heiligen Rasen aufschlägt, so freuen sich alle und jauchzen und sind eidgenössisch stolz, doch wenn man bedenkt, dass der Roger Federer ein leidenschaftlicher Fallschirmspringer sein könnte, dann ist die Freude, dass er in Wimbledon aufschlägt, irgendwie makaber, und überhaupt muss danach jemand aufräumen, und da hört der Spaß dann definitiv auf, ein Spaß, der auch bei anderen Aufschlägen manchmal ausbleibt, etwa beim Augenaufschlag, der durchaus zu den schönen Dingen dieser Erde zählen darf, aber beileibe nicht immer positive Folgen hat, und natürlich liegt nicht zwingend eine böse Absicht zugrunde, aber so ein Augenaufschlag kann einen Mann ganz schön umhauen, irgendwie nachvollziehbar, ist ja auch nur ein Schlag, darum also Augen auf bei der nächsten Augenaufschlägerei, vor allem, wenn neben der Augenaufschlägerin ein eifersüchtiger Lebensabschnittsgefährte sitzt, so groß wie ein Kleiderschrank oder ein Dreimannzelt, und ja, auch Zelte lassen sich aufschlagen, auf einem Campingplatz oder der sumpfigen Wiese bei einem Populärmusikfestival, gerne auch in der unberührten Natur, deren Unberührtheit dann jedoch der Vergangenheit angehört, wenn man ein Zelt aufschlägt, was wiederum etwas ist, das man vorzugsweise im Sommer tut, vielleicht noch im Frühling oder an einem warmen Herbsttag, jedoch sehr selten im Winter, denn Zelte sind furchtbar schlecht isoliert, da gefriert schnell einmal der Rotz auf der Oberlippe, wenn draußen der Schnee pittoresk in der Postkartenlandschaft liegt, und es ist merkwürdig, dass es das Wort Schnee nur im Singular gibt, Schnee kann man nicht pluralisieren, obwohl, es gibt doch mehr als nur einen Schnee, es gibt den neuen und den von gestern, es gibt den puderzuckrigen und den gefrorenen und den matschigen, da kann man doch nicht sagen, es gäbe nicht verschiedene Schnees oder Schneen, und einmal, da war ich in Finnland in einer Sauna, bei neunzig Grad, und draußen war Winter und zehn Grad unter Null, und nach dem Saunagang wollte ich mich in den Schnee fallen lassen, denn das macht man so, wenn man im finnischen Winter sauniert, und in der Fantasie sieht das dann auch immer ganz hübsch aus, wie der Körper aus dem Saunahüttchen stürmt und nackt in den Schnee stürzt, dass die Flocken zur Seite stieben wie Staub oder feiner Sand oder Mehl in der Backstube, und genau so sollte es sein, es sollte stieben, also hüpfte ich in den Schnee, doch der war eisig hart und etwa so nachgiebig wie eine Quartierstrasse, und wenn man sich auf die Quartierstrasse fallen lässt, ist das nicht sonderlich angenehm, schon gar nicht, wenn man dabei nackt ist, und man kann wirklich nicht behaupten, dass der Schnee damals vor der Sauna der gleiche Schnee ist, der dem Kokain zu seinem Kosenamen verhalf und Schneeengel entstehen lässt, darum plädiere ich dafür, dass Schnee einen Plural erhält, die Buchstaben sind ja da, man müsste sie nur nutzen, und um die Buchstaben, um die soll es hier ja gehen, und vielleicht müsste man sie einmal näher betrachten, ihren Charakter, ihr Wesen erkennen, vielleicht müsste man sich auf sie einlassen, denn es gibt ja viele verschiedene Buchstaben, und sie unterscheiden sich zum Teil markant, manche sind eher zurückhaltend und etwas kleinmütig, wie das I, dieses anorektische Ding, dünn wie Iggy Pop zu seinen besten Zeiten, oder das L, auch ziemlich mager, aber mit langen Füssen, oder dann die Extrovertierten, wie das V, die Schlampe unter den Buchstaben, die ihre Schenkel bei jeder Gelegenheit spreizt, und überhaupt sind Buchstaben allein durch ihre Form ja sehr sexuell konnotiert, etwa das P mit dem üppigen Busen, oder das R mit Busen und Penis, oder Titten und Schwanz, je nach Wörterbuch, und es ist irgendwie seltsam, dass Intersexualität so wenig salonfähig ist und in der Gesellschaft noch so stark stigmatisiert oder verschwiegen wird, im Alphabet aber schon immer ihren verdienten Platz hatte, eben mit dem R, der nun wahrlich nicht der unbeliebteste aller Buchstaben ist, das wäre dann wohl eher das Q, weil man daraus außer Quark, Quatsch, Quasimodo und Qualität nicht viel machen kann, vielleicht noch Quallen, aber Quallen sind noch unpopulärer als das Q selbst, das wiederum keine dezidiert sexuelle Komponente aufweist, eher eine biologische, wenn man in der Kreisform und dem kleinen Anhängsel eine Kaulquappe oder ein Spermium erkennen will, wobei sich bei letzterem ein sexueller Kontext dann doch kaum abstreiten lässt, wenn auch nicht so sehr wie beim E, das auf den gleichen langen Füssen steht wie das L, dazu aber auch ebenso lange Arme und einen je nach Temperatur und Schriftart ebenso langen oder nur minim kürzeren Penis aufweist, und es sieht natürlich seltsam aus, wenn das große E mit seinen langen Füssen und Armen und einem Ständer durch die Sätze tappt, doch noch bizarrer mutet das K an, dessen Erektion zwar zu wünschen übrig lässt, das seinen Arm aber in einer Art und Weise in den Himmel reckt, dass der Führer zufrieden seinen Schäferhund getätschelt hätte, und wenn nun Nazis mit Erektionsschwäche in Verbindung geraten, kann das natürlich auch ein Zufall sein, nicht alle Faschisten müssen Schlappschwänze sein, nicht zuletzt existiert auch die alte Leier, dumm ficke gut, und ob es nun stimmt oder nicht, lässt sich kaum abschließend beurteilen, und überhaupt ist Ficken etwas, das Buchstaben trotz des ganzen sexuellen Subtextes gar nicht tun, es kommt kaum zu körperlichen Kontakten, höchstens bei den Schweden, die dem A und dem E manchmal eine physische Verschmelzung erlauben, zum Beispiel beim Wort Æbler, das Äpfel bedeutet, und vielleicht sind die Schwedinnen und Schweden darum so schöne Menschen, weil bei ihnen auch die Buchstaben miteinander kopulieren, aber womöglich sollte man die Buchstaben nicht so sehr sexualisieren, es wird sowieso zu viel sexualisiert, in der Kunst und in den Medien und wo es nur geht, auch hier in diesem Satz, der eigentlich gar nicht den Sex von Buchstaben thematisieren soll, sondern ihr mutmaßliches Erschrecken beim Aufschlagen einer Seite, und ja, Sex mag manchmal ebenfalls erschreckend sein, aber es gibt noch unzählige weitere Dinge, die erschreckend sein können, von der Morgentoilette bis zu den Träumen, und meistens handelt es sich beim Erschrecken um eine Reaktion auf ein unvorhergesehenes Ereignis, was wiederum bedeutet, dass der Weltuntergang, wenn er denn kommt, kein Erschrecken auslösen dürfte, ebenso wenig das Versinken der Malediven im Meer, denn unvorhergesehen ist beides nicht, hingegen ist es ziemlich überraschend, wenn man im Zug sitzt, mit leicht debilem Blick aus dem Fenster auf die vorbeirauschende Landschaft starrt und dann plötzlich ein Säbelzahntiger mit Schlaghosen auf den gegenüberliegenden Sitz hüpft und laut zu singen beginnt, wobei es unklar ist, welcher Aspekt die größte Irritation erzeugt, sei es die Tatsache, dass Schlaghosen ja nun wirklich nicht mehr angesagt sind, der Umstand, dass Säbelzahntiger nicht als passionierte Sänger oder Zugfahrer gelten, oder die offensichtlich widerlegte Annahme, dass die hübschen Kätzchen ausgestorben seien, und wenn man in einem solchen Moment erschrickt, dann ist dies durchaus nachvollziehbar, doch eigentlich braucht es nicht einmal ein Säbelzahntiger zu sein, ich erschrecke manchmal schon, wenn mir im Zug bereits eine Person gegenüber sitzt, während ich mit leicht debilem Blick aus dem Fenster auf die vorbeirauschende Landschaft starre, und das Knie dieser Person dann zufällig und ganz leicht mein Knie touchiert, was nun wirklich nicht schockierend sein sollte, doch diese kleine Berührung lässt mich manchmal äußerst heftig zusammenzucken, sie scheint mir erschreckender zu sein als wenn mir ein Mitreisender ohne Vorwarnung eine Ohrfeige servieren würde, was aber nur auf einer Vermutung beruht, denn bisher wurde ich in öffentlichen Verkehrsmitteln noch nie geohrfeigt, und wenn es irgendwann geschehen sollte, betrachte ich die Sache mit der leichten Berührung am Knie vielleicht in einem anderen Licht, doch eigentlich dürstet es mich nicht nach einer entsprechenden Erleuchtung, überhaupt ist Erleuchtung nichts, wonach ich strebe, in keinerlei Hinsicht, es ist so schon häufig zu hell, und womöglich ist es tatsächlich so, dass Buchstaben erschrecken, wenn man eine Seite aufschlägt, vielleicht mögen sie das Licht einfach nicht, vielleicht haben sie eine Lichtallergie, oder sie wollen einfach nicht gesehen werden, wollen nicht gelesen werden, und dann müssten wir ein schlechtes Gewissen haben, wenn wir lesen, im Schein einer Taschenlampe unter der Bettdecke oder im kalten Licht einer Neonröhre in einem Großraumbüro, wir hätten dann die Schuld zu tragen, wenn die Buchstaben erschrecken, und vielleicht sollten wir aufhören zu lesen, die Buchstaben hätten dann ihre Ruhe und müssten nicht mehr entsetzt und mit bleichen Gesichtern reglos auf den Seiten liegen, während wir unsererseits davon ablassen könnten, unsere Energie darauf zu verschwenden, Buchstaben zu verletzen oder zumindest zu brüskieren, sondern uns darauf konzentrieren könnten, andere Menschen zu verletzen oder zumindest zu brüskieren, das können wir schließlich auch ganz gut und müssen dafür nicht einmal eine Seite aufschlagen, es reicht schon, wenn wir im Zug jemanden ganz leicht am Knie berühren, dem Gegenüber einen Augenaufschlag schenken und ihn in ein Gespräch über den Roman verwickeln, den alle Welt für unglaublich toll befindet und den man kürzlich endlich gelesen hat, und aus diesem ersten Kontakt entwickelt sich dann vielleicht eine Zweisamkeit, mit gemeinsamem Saunieren im finnischen Winter und mit Schneeengeln und mit Kopulation und mit Erektionsschwäche und vielen Möglichkeiten, sich gegenseitig zu verletzen oder zumindest zu brüskieren, doch das alles entsteht und funktioniert leider nicht mehr, wenn wir mit dem Lesen aufhören, wir starren dann einfach weiterhin mit leicht debilem Blick aus dem Fenster auf die vorbeirauschende Landschaft, darum ist es vielleicht doch besser, wenn wir die Buchstaben weiterhin erschrecken, schließlich sind es ja nur Buchstaben, die haben keine Seele, und wahrscheinlich sind sie es nicht wert, dass man mehr als einen Satz darüber verliert, ob sie sich nun erschrecken, wenn man eine Seite aufschlägt. Oder vielleicht doch.

Am Anfang war das Wort. Also nicht das Wort, sondern der Ton aus dem Universum und ich bin froh, dass der Mensch diese und andere Töne soweit ordnen kann. Man sagt ja dem asiatischen Volk so viel Weisheit nach. Aber ich denke, sie sind gar nicht so weise, wenn sie tausende Buchstaben brauchen um eine Sprache zu beherrschen. Wir kommen mit 30 aus, die Russen mit 33, die Chinesen brauchen für den alltäglichen Bedarf 3000 bis 5000, die Japaner tragen überhaupt papierene Stiefeln, dass heißt dann Ggeh“dicht“. Gar nicht erschrocken und ganz außer atem vor lauter Begeisterung über diesen platinbrillantösen Bericht über dieses Buchstabenwortgewalt, die sich ganz gewaltig und vergnüglich in den Kopf schraubt. ICH bin total begeistert! Vielen Dank für dieses Entzücken 🙂
Und *lachhhh*, dass mit dem Schnee habe ich mir auch schon oft gedacht…
Herzlichst gegrüßt aus Vienna
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Besten Dank für dein Lesen und deine Begeisterung. Und für deinen Kommentar, natürlich… Ich weiss nicht, ob es eine Rolle spielt, wie viele Buchstaben man zur Verfügung hat; wichtiger ist, wie man sie ordnet. Dann sind sie vielleicht auch weniger schreckhaft. Jedenfalls nochmals danke, dass du die Buchstaben für deinen Kommentar in eine schöne Reihe gebracht hast, und liebe Grüsse nach Wien…
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