Ich kannte ihn kaum, zumindest nicht gut genug, um mich heute noch an seinen Namen erinnern zu können. Wir verbrachten eine Woche in unfreiwilliger, staatlich diktierter Gemeinschaft, sahen uns danach vielleicht noch zwei oder drei Mal. Er rauchte die gleichen Zigaretten wie ich, manchmal reicht das schon aus, um die Fremdheit zu besiegen. Ich weiß nicht mehr viel über ihn. Er fuhr einen Nissan, bordeauxrot, und er fuhr ihn schnell, viel zu schnell. Ich hatte ein wenig Angst, wenn ich neben ihm im Wagen saß. Beruflich war er bei einem Schlüsseldienst angestellt. Schlüsseldienstleister schien eine wichtige Aufgabe zu sein, denn er war sehr stolz darauf, dort zu arbeiten.
Einmal sagte er zu mir, er gehöre zu den zwei Prozent der intelligentesten Menschen dieses Planeten, ein Test habe dies bewiesen. Ich gehöre nicht dazu, also schien es mir unangebracht, ihm zu widersprechen. Doch ich fragte ihn, weshalb er seine geballte Klugheit an einen Schlüsseldienst verschwende. Er sprach dann von der Zukunft, die nicht mehr beim Schlüsseldienst stattfinden würde. In beinahe verzweifelter Bescheidenheit klagte er, ich könne mir nicht vorstellen, wie seltsam es sei, zur geistigen Elite zu zählen. Tatsächlich konnte ich seine Gefühle nicht nachvollziehen, vor allem nicht bei Tempo 180 auf der Autobahn. Erlaubt waren 120, doch er war offenbar klug genug, um sich nicht daran zu halten.
Er erzählte mir von einer groß angelegten Verschwörung, bei welcher unser gesamtes Weltbild in schleichender Weise beeinflusst werde, was darin resultiere, dass die konspirativen Kräfte dereinst eine gewisse Allmacht erlangen würden. Ich fragte ihn, woher er dies wisse, und er meinte, dass er eben die Zusammenhänge sehen könne. Erklären konnte er diese Zusammenhänge zwar nicht, doch ich war froh, dass er sie erkannte, zählte er doch zur geistigen Elite, und vielleicht würde diese uns dann retten.
Wir verloren uns ziemlich bald aus den Augen, doch jedes Mal, wenn ich einen bordeauxroten Nissan sehe, denke ich an ihn. Jahre später fuhr ich an jenem Schlüsseldienstladen vorbei, in welchem er arbeitete. Er stand hinter der Theke und starrte aus dem Fenster. Bestimmt dachte er über kluge Dinge nach, doch er wirkte auch ziemlich traurig. Womöglich hatte er jedes Streben aufgegeben und wartete lediglich, bis die Verschwörung und damit sein Weltbild ihr Ende fanden. Vielleicht war er einfach zu intelligent, um sich dagegen zu wehren. Ich weiß es nicht, doch in jenem Moment war ich froh, zu den achtundneunzig Prozent zu gehören.
