Mein Name ist George E. Nelson, und ich bin aus geschäftlichen Gründen nach Hong Kong gekommen. Eigentlich stamme ich aus Louisville in Kentucky, wo ich vor vierzig Jahren zur Welt gekommen bin. Zwischen damals und heute liegen eine durchschnittliche Kindheit, eine durchschnittliche Jugend, durchschnittliche Leistungen in der Schule, durchschnittliche sexuelle Erfahrungen mit durchschnittlichen Mädchen, dann eine durchschnittliche Verlobte, die zur durchschnittlichen Ehefrau wurde und mir zwei durchschnittliche Kinder schenkte. Sie vermuten richtig, wenn Sie vermuten, ich sei ein ziemlich durchschnittlicher Mann. Sogar mein Penis hat die durchschnittliche Länge von 15,6 Zentimetern, aber das tut hier nichts zur Sache. Auch mein Job ist durchschnittlich, ich arbeite bei einer Versicherungsgesellschaft. Und eben diese Versicherungsgesellschaft ist schuld daran, dass ich jetzt hier in Hong Kong sein muss, um an einigen bedeutenden Treffen teilzunehmen. Natürlich sind diese Treffen nur von durchschnittlicher Wichtigkeit. Die Firma hat mich in einem durchschnittlichen Hotel einquartiert, doch irgendetwas hat mit der Reservation nicht geklappt, und so musste ich mir auf eigene Faust ein Zimmer organisieren und fand eines im Regal Hong Kong Hotel.
Meinen kleinen Koffer musste ich selbst auf mein Zimmer tragen, doch kaum hatte ich ihn auf das große Bett geworfen, klingelte das Telefon und der ältere Herr, der mich am Empfang begrüßt hatte, meldete sich in seinem gebrochenen Englisch. Er teilte mir mit, dass ein Brief für mich angekommen sei. Ich gab zurück, dass dies nicht wahr sein könne, niemand wisse, dass ich in diesem Hotel abgestiegen sei. Doch er beharrte auf seiner Meinung und verlor allmählich seine Geduld. Mir erging es ähnlich, also fuhr ich mit dem Aufzug nach unten und holte den Brief ab. Tatsächlich stand mein Name auf dem Umschlag, und auch die Zimmernummer war richtig, nämlich 507. Die Handschrift war ziemlich elegant, beinahe kunstvoll, doch sie ließ keine Glocken klingeln, kam mir nicht bekannt vor. Ich nickte dem Mann am Empfang kurz zu und fuhr wieder nach oben in mein Zimmer, um den Brief zu lesen.
Lieber George
Wenn du diesen Brief liest, werde ich nicht mehr am Leben sein. Ich werde einfach aus deiner Welt verschwinden und erspare dir den Anblick meines toten Körpers. Suche nicht danach, du wirst ihn nicht finden. Doch wahrscheinlich wäre dir die Idee, mich zu suchen, sowieso nicht gekommen. Wahrscheinlich ist es dir sogar egal, dass ich tot bin, schließlich war es dir auch egal, dass ich gelebt habe. Doch ich mache dir keinen Vorwurf und ich gebe dir auch nicht die Schuld an meinem Tod. Dass du mich nie richtig lieben, dafür umso besser belügen und betrügen konntest, liegt wohl nicht zuletzt an mir. Ich weiß, dass ich keine angenehme Lebenspartnerin war, doch dieses Problem hat sich jetzt für dich erledigt. Du wirst nicht um mich trauern, dessen bin ich mir bewusst, und wahrscheinlich wirst du dich sogar freuen. Ich konnte dir nie geben, was du dir gewünscht hast. Nun schenke ich dir deine Freiheit, die Freiheit von mir. Ich hoffe, mein Geschenk gefällt dir.
Leb wohl.
Karen
Drei Mal las ich den Brief durch, wobei mir das leere Schlucken immer schwerer fiel. Diese Worte waren definitiv nicht an mich gerichtet. Ich kannte keine Frau, die Karen hieß. Ganz kurz dachte ich daran, dass Laura, meine Frau, den Brief verfasst haben könnte, doch dann besann ich mich. Es war nicht ihre Handschrift, und sie hatte wohl auch keinen Grund, etwas Derartiges zu schreiben. Sie würde sich niemals umbringen, und obwohl wir sicherlich kein Traumpaar waren, so führten wir doch eine ziemlich gute Ehe. Ich hatte sie nie betrogen und beschränkte das Belügen auf ein Minimum. Noch einmal überprüfte ich den Umschlag. Er trug tatsächlich meinen Namen und die Nummer 507. Nach langem Überlegen kam ich zum einzig möglichen Schluss, dass mein Hotelzimmer vor meinem Eintreffen ausgerechnet von einem Mann bewohnt worden war, der gleich hieß wie ich. Nach kurzem Zögern rief ich den alten Mann am Empfang an und fragte ihn, wer vor mir dieses Zimmer belegt hatte. Zuerst wollte er keine Auskunft geben, hatte aber scheinbar dennoch seine Unterlagen geprüft, denn plötzlich stöhnte er überrascht auf. Tatsächlich lautete der Name des Vormieters ebenfalls George E. Nelson, nur stammte dieser aus Austin, Texas. Ohne mich zu verabschieden, legte ich den Hörer wieder auf die Gabel und starrte minutenlang ins Leere.
Ich bin mir stets unsicher, ob ich an Zufälle oder an das Schicksal glauben soll, und auch dieses Mal war ich hin- und hergerissen. Ich hatte nicht das Bedürfnis, mich einzumischen, und schon gar nicht den Anspruch, irgendwie hilfreich zu sein. Ich fühlte mich lediglich verpflichtet, den Brief an den eigentlichen Empfänger weiterzuleiten. Also ließ ich mir am Empfang die Adresse des anderen George E. Nelson geben, schrieb sie auf einen Umschlag und steckten den Brief hinein. Natürlich gingen mich die Hintergründe der Geschichte nichts an. Doch meine Neugier, die sonst stets friedlich schlummerte und sich nur selten meldete, war plötzlich hellwach. Ich fügte einen Zettel hinzu, auf den ich die Frage «Was ist geschehen?» und meine Adresse schrieb. Dann klebte ich den Umschlag zu und schickte ihn ab.
Seit meinem Aufenthalt in Hong Kong war mehr als ein Monat vergangen, und ich hatte meinen Namensvetter schon beinahe vergessen, als eines Tages ein Brief von ihm eintraf. Er war in einer kaum zu entziffernden Handschrift verfasst und ziemlich kurz.
Hallo George. Sie hat es sich anders überlegt. Vielleicht klappt es ja beim nächsten Mal. Grüße, George.
Meiner Frau hatte ich nichts von der Geschichte erzählt, und auch den Brief zeigte ich ihr nicht. Ich weiß nicht warum. Womöglich hatte ich Angst. Manchmal konnte ich nicht mit Sicherheit behaupten, dass sie mit mir wirklich glücklich ist. Durchschnittlich glücklich vielleicht. Wenn ihr nun aber durchschnittlich glücklich plötzlich nicht glücklich genug gewesen wäre, was dann?
Am nächsten Tag kaufte ich meiner Frau zum ersten Mal in meinem Leben Blumen. Vom anderen George E. Nelson habe ich seither nichts mehr gehört.

Diese Geschichte ist ein unbedeutender Teil eines unbedeutenden und unveröffentlichten Romans.
Belanglos zu erwähnen, dass das Bild sehr passend dazu ausgesucht wurde. Und die Geschichte sehr schön ist, so es denn zwischen Nichts und wieder Nichts noch einen Geschmack und einen Geruch für ein Wort wie „schön“ gibt.
Mir gefällt sie. Aber das ist ja kein Wunder, ist Selbstmord doch ein sehr erzählenswertes Sujet.
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Danke für den Kommentar. Nein, nicht belanglos. Schön und gut zu wissen, dass dir neben dem Bild auch die Geschichte gefällt. Eben. Danke.
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