Vor gefühlten Jahrzehnten, als Unmengen von Zeit in meiner Welt herumlagen, die es totzuschlagen galt, um mich von Gedanken an meine Arbeitslosigkeit und die Irrelevanz meiner Existenz abzulenken, gewöhnte ich mir an, diesem Totschlagen die Form von täglichen Ausflügen zum Supermarkt meines Vertrauens zu geben, der glücklicherweise nur wenige Gehminuten von meiner Wohnung entfernt lag. In diesen Exkursionen lag eine Konstanz, die den zerfransten Tagen in jener Zeit ein wenig Struktur verlieh, und darin wiederum offenbarte sich eine weitere Konstanz, die einen Schnurrbart trug.
Ich nannte ihn Francesco, obwohl dies mit ziemlicher Sicherheit nicht sein richtiger Name war. Es verging kaum ein Tag, an dem ich ihm nicht begegnete, irgendwo zwischen Einkaufszentrum und Wohnsiedlung. Ich sah ihn deutlich häufiger als meine Eltern, meine Freunde. Francesco war nicht mein Freund, ich hatte noch nie ein Wort mit ihm gewechselt. Aus unerfindlichen Gründen mochte ich ihn nicht. Vielleicht war er der liebevollste Mann, der je auf Erden gewandelt ist, schenkte seiner Frau jeden Tag zwanzig Rosen, spendete regelmässig für Greenpeace und Amnesty International, besuchte jeden Sonntag die Kirche und danach seine blinde Mutter im Altersheim, vielleicht war er wirklich das personifizierte Gute, doch ich konnte ihn nicht leiden. Francesco war damals etwa sechzig, womöglich auch schon siebzig Jahre alt. Er war klein, dick, das Gesicht, das sich rund um seinen Schnurrbart ausbreitete, liess eine italienische Abstammung erahnen und zeigte niemals einen Anflug von Lebensfreude. Während sein Anblick schon bei kühlen Temperaturen kein Vergnügen darstellte, war Francesco an warmen Tagen noch unansehnlicher, da er sich dann prinzipiell mit zu kurzen Hosen und einem Unterleibchen bekleidete. Trotzdem arbeiteten seine Schweissdrüsen weit über dem Durchschnitt und krönten seine unschöne Optik mit einem äusserst unappetitlichen Geruch. Was sich hinter der abstossenden Fassade verbarg, entzog sich meiner Kenntnis, ich kannte seine Welt nicht. Ich kannte nur die Welt, die ich ihm in meiner Welt gegeben hatte.

Francesco wurde in einem kleinen Dorf in Sizilien geboren. Seine Mutter hiess Graziella, hatte die Ausmasse eines Fiat 500 und die Schwangerschaft bis zuletzt nicht bemerkt. Wenn sich in ihrem Bauch seltsame Bewegungen ereigneten, verfluchte sie den Fischhändler, der ihr angeblich verdorbene Muscheln verkauft hatte. Als sich die mutmassliche Magenverstimmung als Nachwuchs entpuppte, war Graziella entsprechend überrascht und nur wenig begeistert. Schliesslich hatte sie schon drei Töchter zur Welt gebracht und langsam ihre breite Nase voll, zumal sich ihr Mutterstolz in engen Grenzen hielt. Ihre Unterhaltung mit ihren Kindern beschränkte sich auf eine lautstarke Mischung aus Schreien und Grunzen, und sie wurde nicht müde, ihre Nachkommen in der Öffentlichkeit der Frechheit, Dummheit, Ungezogenheit und Unbrauchbarkeit zu bezichtigen. Eigentlich wünschte sie sich nichts sehnlicher als Befreiung von der Bürde der Mutterschaft, doch dann kam Francesco, und es wurde noch schlimmer. Nach seiner Geburt hielt sich Graziella nicht lange mit Mutterpflichten auf und verdonnerte ihre Töchter Lucia, Francesca und Monica dazu, sich um ihren neuen Bruder zu kümmern. Graziella selbst wollte sich voll und ganz der Nahrungsaufnahme widmen.
Obwohl ihre Mutter nur sehr beschränkt als Vorbild taugte, erledigten die Mädchen ihre Aufgabe problemlos. Nach anfänglichen Berührungs- und anderen Ängsten spielte das dreiköpfige Gespann die Rolle der Ersatzmutter nahezu perfekt. Lucia, Francesca und Monica waren stets bestrebt, das Verhalten, das ihre Mutter bei ihrer Erziehung angewandt hatte, ins Gegenteil umzudrehen, eine Taktik, die sich als ziemlich erfolgreich und für Francesco als äusserst angenehm herausstellte.
Zu Francescos neuntem Geburtstag zauberten die drei Mädchen einmal mehr ein veritables Festessen und krönten ihr kulinarisches Meisterwerk mit einer riesigen Schokoladentorte. Wie üblich liess Graziella die restlichen Familienmitglieder ein kleines Stück Kuchen abschneiden und verleibte sich schliesslich den Rest ein, der mehr als die Hälfte der Torte ausmachte. Dennoch schloss sie den Nachtisch vor allen anderen ab, was jedoch niemanden verwunderte. Erstaunen verursachte hingegen die Tatsache, dass Graziella danach nicht wie gewohnt ein lautes Rülpsen ertönen liess, sondern stumm von ihrem doppelt verstärkten Stuhl fiel.
Nach dem Tod seiner Mutter entdeckte Francesco seinen Vater, der bisher im wörtlichen Sinne in Graziellas Schatten gestanden hatte. Sein Name war Alberto, er arbeitete in einer grossen Gärtnerei, die sich vor allem auf Tomaten konzentriert hatte. Seine wenigen Freunde nannten ihn deshalb nur Albertomato, was ihn aber nicht sonderlich traf, er freute sich, überhaupt angesprochen zu werden. Sein Selbstvertrauen war wie seine Körpergrösse nur dürftig entwickelt. Obwohl selbst kein überdurchschnittlich grosses Kind, war Francesco bereits im Alter von neun Jahren bedeutend grösser als sein Vater, sowohl körperlich als auch geistig. Selbstredend änderte Graziellas Ableben nichts an dieser Tatsache, dennoch stellte es für Alberto eine Art Neugeburt dar. Der Mann, der seit seiner Hochzeit nie mehr gelacht hatte, wurde plötzlich von einer Heiterkeit erfasst, die so frisch war wie seine Hemden, die er fortan täglich wechselte. Sein Freundeskreis wuchs merklich an, die Frauen, die bisher für streunende Hunde mehr Aufmerksamkeit aufwendeten als für Alberto, fühlten sich zunehmend zu ihm hingezogen. Die neue Lebenslust blieb auch der Mafia nicht verborgen, die ihn schliesslich rekrutierte und ihm zu Beginn mit einfachen Botengängen beauftragten. Doch mit seiner ungeahnten Energie arbeitete sich Alberto schnell in die oberen Regionen der Organisation hoch. Nach einer der sogenannten Familienfeiern, bei welcher sämtliche Mafiabosse einer mysteriösen Fischvergiftung zum Opfer fielen, erwachte Alberto plötzlich als Oberhaupt des Clans aus seinem Traum, den er seit dem Tod seiner tyrannischen Ehefrau gelebt hatte.
Während sein Vater zum mächtigsten und respektiertesten Mann der Region avancierte, entwickelte sich auch Francesco weiter. Zu Beginn hatte er noch zu Alberto aufgeschaut, als er auf ihn hinunterblickte, irgendwie mochte er diesen kleinen, schüchternen Menschen. Auch mit dessen wachsender Fröhlichkeit nach Graziellas Tod konnte sich Francesco durchaus anfreunden, nicht jedoch mit der kriminellen Karriere, die sein Vater verfolgte. Die zögerliche Annäherung wich einer immer intensiver werdenden Abneigung, und mit sechzehn Jahren zog Francesco bei seinem Vater aus und mit einigen Autonomen zusammen in ein leerstehendes Fabrikgebäude. Da die Polizei ebenfalls auf der Lohnliste der Mafia stand, waren diese wenigen Aktivisten die einzigen Kräfte, die sich gegen das Regiment von Alberto und seinen Leuten auflehnten. Der Erfolg hielt sich jedoch in bescheidenen Grenzen, denn der Enthusiasmus der Gruppe, die sich Armee der Gerechtigkeit nannte, fusste auf dem Prinzip des gewaltlosen Widerstandes, eine Taktik, die nicht unbedingt ein probates Mittel gegen die Mafia war. Die stolze Armee der Gerechtigkeit wurde von einem gewaltsamen Mitgliederschwund erfasst, an dessen Ende schliesslich nur noch eine Handvoll Idealisten übrig blieb, darunter auch Francesco. Nach einer erneuten Attacke durch das Personal seines Vaters, die ihm drei Schüsse ins Schienbein einbrachte, flüchtete Francesco in nördliche Richtung. Mit einundzwanzig Jahren reiste er in die Schweiz ein.
Was hier aus ihm wurde, präsentierte sich mir fast jeden Tag auf dem Weg zum Supermarkt. Der idealistische, kämpferische Francesco war längst tot, sein Sterben begann kurz nach dem Grenzübertritt. Übrig blieb ein kleiner dicker Italiener, am Stock gehend, ständig mürrisch blickend und umhüllt von einer Wolke aus Knoblauchgeruch und Unzufriedenheit. Sein Leben bestand aus Essen, Fussball und seinen täglichen Spaziergängen, deren Zeuge ich jeweils wurde. Er verdrängte allfällige Erinnerungen an seine Jugendzeit, war innerlich zerfressen, von Traurigkeit und Angst, von Scham und Reue, und durch seine Körperfülle konnte sich die Leere in seinem Innern ungehindert ausbreiten.
Es war eine reichlich klischeehafte, lächerliche, simplifizierte und vor allem fiktive Biografie, doch Francescos von mir geschaffene Leben betrübte mich. Ein seltsamer Missmut erfüllte mich, wenn ich bedachte, was die Welt, wie sie sich in meiner unmittelbaren Umgebung präsentierte, aus einem Menschen machen konnte. Man konnte gut leben dort. Es waren keine paradiesischen, aber grundsätzlich doch ziemlich angenehme Zustände, ein verhältnismässig schönes Umfeld in einer verhältnismässig schönen Stadt in einem verhältnismässig schönen Land. Beste Voraussetzungen also, um ein verhältnismässig schönes Leben zu führen, doch Francesco hatte verhältnismässig wenig daraus gemacht. Die Hoffnung, meine erfundene Geschichte sei weit entfernt von jeder Wahrheit gewesen, war nur ein schwacher Trost, ein kümmerlicher Restoptimismus, dem ich eigentlich keinen Glauben schenkte. Vielleicht mochte ich Francesco deshalb nicht. Womöglich gemahnte er mich damals zu stark an die Realität. An mein eigenes Unvermögen, meinem Leben so viel Gewicht zu verleihen, dass ich es in beide Hände hätte nehmen müssen. An mein mangelhaftes Talent, mit der Zeit mehr anzufangen, als sie lediglich totzuschlagen.