Schon seit Stunden trottet ein unbekannter dreibeiniger Hund neben ihm her, sein viertes Bein im Maul. Es ist ein trauriges Bild, und der alte Mann mag es nicht mehr sehen. Also nimmt er dem Hund das Bein aus dem Maul und schiebt es sich selbst zwischen die Zähne. In der Hand tragen will er es nicht, das fände er dann doch zu eklig.
Als der Hund an einem Baum stoppt und versucht, eines der drei verbliebenen Beine zu heben, kippt er immer wieder zur Seite. Der alte Mann sieht nicht ein, weshalb auch er stehen bleiben oder dem Hund gar helfen sollte. Und dennoch tut er es. Denn einen wirklichen Grund, um weiterzugehen, kann er ebenso wenig erkennen. Und in diesem Moment seines Lebens ist der Hund sein bester und einziger Freund.
Er nimmt das Bein aus seinem Mund und stellt es stützend unter den Körper des Tieres. Der vorübergehend wieder vierbeinige Vierbeiner verrichtet sein Geschäft und schenkt dem alten Mann einen dankbaren Blick.
«Ist wertvoll», grummelt der Alte, während er das vierte Bein wieder an sich nimmt. «Dankbarkeit. Ist viel wert.»
Der Hund zuckt mit den Schultern, als hätte er die Worte nicht verstanden. Doch der alte Mann ist sich sicher, dass sein Freund genau weiß, was er sagen will.
«Gibt fast nichts, das mehr wert ist als Dankbarkeit. Vertrauen vielleicht. Und Liebe. Aber Dankbarkeit ist einfacher.»
Zaghaft lässt der Hund ein Jaulen ertönen. Der Alte neigt seinen Kopf.
«Gold? Ja, Gold ist wohl mehr wert als Dankbarkeit. Eigentlich ist Gold mehr wert als alles andere. Doch Gold ist furchtbar. Gold ist zerstörerisch. Es kann dich aushöhlen. Die Seele rauben. Wenn es fehlt.»
Erneut zuckt der Hund mit den Schultern, verleiht seinem Antlitz einen fragenden Ausdruck und versucht, mit einer Pfote ein Fragezeichen in die Luft zu zeichnen. Natürlich fällt er um und flucht laut bellend.
«Du fragst, warum Gold alles wert und dennoch furchtbar ist? Nun gut. Ich erzähle dir eine Geschichte.»
***
Die Nacht hatte sich soeben zur Ruhe gebettet und überließ die Bühne einem Morgen, der sich von einem plakativen Sonnenaufgang blenden ließ. Goldenes Licht benetzte den Horizont und vermischte sich mit dem zaghaften Dunkelblau des Himmels. Auf den Wiesen und zwischen den Tannen lag leichter Dunst, der den Schall zu dämpfen schien.
Wer in diesem Moment geboren wurde, hätte annehmen können, dass die Welt ein wunderschöner Platz sei. Ich wurde nicht in jenem Moment geboren, war damals schon zweiundzwanzig Jahre alt. Zweiundzwanzig Jahre, in denen in mir die Gewissheit gereift war, dass die Welt eben kein wunderschöner Platz war. Im Gegenteil. Es war mir ziemlich unangenehm, ein Teil davon zu sein. Und ich bemühte mich, die Ausdehnung und Ausprägung dieses Teils weitestgehend zu beschränken.
Ich saß auf einer Wolldecke, auf welcher ich auch die Nacht verbracht hatte, und verfolgte gebannt das Erwachen des Tages, als wäre dieses Ereignis ähnlich spannend wie ein Film von Hitchcock. War es auch, für mich. Das Krächzen der Krähen mischte sich mit den Arien der Singvögel, im nahen Wald waren die Schatten von Wildtieren zu erkennen, und während der Tau auf den Grashalmen allmählich trocknete, fragte ich mich, weshalb die Welt und das Sein nicht in jedem Moment eine solche Kraft und Schönheit haben konnten. Natürlich verwendete ich dabei nicht diese Worte – wenn ich mich Dinge fragte, ließ ich jede Eloquenz vermissen, da ich überzeugt war, dass der Gefragte den Aufwand nicht wert war. Und schließlich erhielt ich als Antwort meist nur ein stummes Schulterzucken.
Inmitten der Brillanz jenes Morgens ließ ich also meinen Blick wandern. Nicht nur den Baumkuppen entlang, sondern auch zurück in der Zeit, die bisher durch meine Existenz getropft war. Dass ich als trostloses Bündel Mensch auf meiner Wolldecke saß und mich in meinem Elend suhlte, lag nicht an einer Kindheit voller Grauen, auch nicht an schrecklichen Ereignissen, in die ich in irgendeiner Weise verwickelt gewesen wäre, oder an der Bosheit anderer Menschen. Diese war zwar durchaus zu erkennen, richtete sich aber nie in besonderem Ausmaß gegen meine Person. Nein, für meine Lage war ich voll und ganz selbst verantwortlich, und diese Tatsache ließ die Frustration zusätzlich ansteigen. Objektiv betrachtet waren die bisherigen zweiundzwanzig Jahre meines Lebens eine wunderbare Zeit. Ein liebevolles Umfeld, keine nennenswerten Entsagungen, keine gesundheitlichen Einschränkungen, viele Möglichkeiten und noch mehr Freiheiten, diese Möglichkeiten zu nutzen oder auszulassen. Eigentlich hätte ich ein überdurchschnittlich erfülltes Leben führen können. Doch aus unerfindlichen Gründen hatte ich irgendwann aufgehört, das Leben als Verb zu begreifen. Und nachdem ich bisher noch ein schüchternes Pflänzchen der Hoffnung genährt hatte, war nun auch dieses verkümmert, und ich saß auf der Wolldecke, blinzelte in die goldene Morgensonne, die sich wiederum in der glänzenden Klinge des Messers spiegelte, das neben mir lag.
Die Luft war der frühen Stunde entsprechend kühl. Trotzdem zog ich mich vollständig aus. Vielleicht wollte ich mit meiner Nacktheit eine Verbindung von Anfang und Ende schaffen, doch wirklich nachvollziehen konnte ich mein Verhalten nicht. Noch viel weniger verstehen konnte ich das Gelächter, in welches ich ausbrach, nachdem ich mich hingekniet, nach dem Messer gegriffen und mein Spiegelbild in der Klingenfläche betrachtet hatte.
«Irgendwie ist dein Lachen fehl am Platz.»
Dass ich diese Worte dachte, verwunderte mich nicht. Dass sie von einer Frauenstimme gesprochen wurden, hingegen schon. Überrascht ließ ich das Messer fallen und drehte meinen Blick dorthin, wo die Worte hergekommen waren.
Ich wusste nicht, wie ich zuvor Schönheit definiert hatte; vielleicht in Form von lachenden Kinderaugen, von Sternen am Himmel oder Schaumkronen auf den Wellenbergen weit entfernter Meere. Nun hatte Schönheit eine neue Form, nämlich jene einer jungen Frau, die neben meiner Wolldecke stand. Ihr Gesicht war gleichsam zart wie prägnant, die Augen erinnerten an Haselnüsse, und die Haare waren Gold, pures Gold. Die Linien ihres Körpers folgten einer komplexen Logik, deren Resultat absolut vollkommen war, ohne jedoch perfekt und damit langweilig zu sein. Die Brüste schienen nicht genau gleich groß zu sein, was aber nicht störte, sondern einfach nur richtig wirkte. Die Brustwarzen reagierten hart und spitz auf die Kühle des Morgens. Der nackte Leib einer Frau, er hatte mich bisher stets ein wenig eingeschüchtert und geängstigt. Jetzt fand ich ihn zum ersten Mal uneingeschränkt schön.
«Du bist nackt», murmelte ich und beglückwünschte mich innerlich zur immensen Sprachgewalt und Wortgewandtheit, die ich an den noch jungen Tag legte.
«Du auch. Verrückt, nicht?»
«Ja, schon.»
«Was tust du?» wollte die Frau mit den goldenen Haaren wissen und blickte mit kurzem Nicken auf das Messer. Ich schulterzuckte schweigend.
«Warum hast du gelacht?»
Ein weiteres Mal wollte ich ihre Frage nicht unbeantwortet lassen, überdies war ich ja selbst auch gespannt auf meine Antwort.
«Ich weiß nicht. Wahrscheinlich schien mir die Situation ziemlich lächerlich.»
«In der Morgensonne auf einer Wolldecke inmitten einer Wiese zu knien, nackt und mit einem Messer in der Hand – das ist vielleicht nicht lächerlich, aber schon seltsam. Ohne Messer wär’s besser.»
Ihr Reimtalent ließ uns beide kurz lächeln, und diese gleiche und gleichzeitige Reaktion fühlte sich ganz schön schön an.
«Vielleicht. Gehört aber dazu, das Messer», sagte ich beinahe entschuldigend.
«Weshalb?»
«Es ist Zeit zu gehen.»
«Und du findest, diese Entscheidung liege bei dir?»
«Ja.»
«Dann lasse ich dich wohl besser wieder alleine.»
Sie wendete sich ab und ging einige Schritte in Richtung des Waldes.
«Weshalb bist du hier?» rief ich ihr halblaut nach.
Sie blieb stehen, ohne sich umzudrehen. Ich betrachtete ihren Rücken und ihre Schultern, die sich im Rhythmus ihrer Atmung leicht hoben und senkten. Sie klopfte mit ihren Fingern leicht an die Seiten ihrer Oberschenkel. Schließlich kam sie zurück zur Wolldecke.
«Darf ich mich kurz setzen?»
Meine Frage beantwortete sie nicht. Wir lagen nebeneinander auf der Wolldecke. Ich spürte den stetigen Druck des Messers an meinem Bein, wagte jedoch nicht, mich zu bewegen, da das andere Bein jenes der jungen Frau mit dem goldenen Haar berührte und keinem meiner Beine bisher etwas Wundervolleres zugestoßen war.
Nachdem sie nicht müde wurde, mich zu fragen, weshalb ich meiner Existenz mit einer solch einschneidenden Maßnahme begegnen wollte, begann ich zu erzählen. Etwa von meiner Kindheit. Und ja, ich wuchs in einer Zeit auf, in welcher Kinder noch eine Kindheit hatten. Damals rief meine Mutter oft meinen Namen in das schwindende Licht eines Sommerabends, zitierte mich ins Haus und schickte mich manchmal direkt ins Bett. Lange Zeit glaubte ich, ich wäre ein besserer Mensch geworden, wenn ich früher länger hätte draussen spielen können. Doch einerseits werden gute Menschen allgemein überschätzt, und viel zu oft wird ein Mensch, der etwas tut, das als gut anerkannt ist, ganz automatisch ebenfalls als gut anerkannt, obwohl er eigentlich genau so ungut ist wie all die anderen unguten Menschen. Und andererseits merkte ich irgendwann, dass ich meine Mutter zu Unrecht im Unrecht gesehen hatte. Dass sie und mein Vater von all den unguten Menschen mit Abstand die besten waren.
Ich erzählte der jungen Frau mit dem goldenen Haar auch von den Undingen der Jugend und wie ich mich zum ersten Mal verliebte, wie ich zum ersten Mal enttäuscht wurde und zum ersten Mal die Liebe verfluchte. Ich redete über all die ersten Male, von Sex bis Selbstmord. Sie hörte einfach nur zu, lauschte der Zusammenfassung von zweiundzwanzig Jahren, und ich bezweifelte allmählich, dass sie überhaupt noch wach war. Ihre Augen waren geschlossen.
«Schläfst du?» fragte ich vorsichtig.
«Nein.»
«Langweile ich dich?»
«Nein.»
«Soll ich aufhören?»
«Nein.»
Noch nie zuvor gingen mir so viele Worte über die Lippen, und ich befürchtete bereits, dass eben diese Lippen allmählich spröde werden und zu bluten beginnen würden. Doch es wäre mir egal gewesen. Als Kind hatte ich mich vielleicht schon ähnlich wohl gefühlt, doch Gefühle kennen keine Erinnerungen, nur den Moment. Und einen seltsameren und schöneren Moment als jenen, nackt auf der Wolldecke, neben der ebenfalls nackten jungen Frau mit dem goldenen Haar, konnten meine Gefühle kaum kennen.
«Ja, und nun liege ich hier. Neben dir», flüsterte ich, nachdem ich meine ziemlich chronologisch aufgebauten Ausführungen abgeschlossen hatte. Sie schwieg, und ich fragte mich, weshalb ich ihr alles erzählt hatte. Weshalb ich nicht wie bis anhin einfach gelogen, sondern auch beschämende Dinge – und davon gab es einige – erwähnt hatte. Weshalb sie die erste Person war, die erfuhr, dass ich meinen Zwerghasen getötet und das Tagebuch meines besten Freundes gelesen hatte.
«Ich fühle mich irgendwie nicht schlecht», sagte ich. «Tut mir leid, das klang wohl gerade so charmant wie ein Hautausschlag.»
«Nein, eigentlich klang es gut. Gefällt mir.»
Sie drehte sich zu mir hin und legte ihre Hand auf meinen Bauch. Ich blickte ihr in die Augen.
«Warum bist du hier?» fragte ich ein weiteres Mal. Sie antwortete erneut mit einem Schweigen, begleitet von einem Kopfschütteln. Dann setzte sie sich rittlings auf mich.
Im Traumraum hingen Bilder an der Wand, allesamt mit goldenen Rahmen. Darauf zu sehen waren die junge Frau und ich, beim Abendessen in einer kleinen, grün berankten Laube, beim Schwimmen in einem kleinen See, bei einer Kissenschlacht in einem weiß gestrichenen Schlafzimmer, beim Sex auf einem Hausboot, beim Spielen mit kleinen Kindern, bei Kaffee und Kuchen in einem Bistro in Paris, beim gemeinsamen Spülen des Geschirrs. Ich lächelte, als ich bemerkte, dass das Gold ihrer Haare heller strahlte als das Gold der Rahmen. Regungslos stand ich vor den Bildern, wagte kaum zu atmen. Plötzlich fühlte ich ein Stechen in meinem Unterschenkel.
Die Wunde war nicht tief, das Messer hatte sich nur ein paar Millimeter ins Fleisch gebohrt, und lediglich vereinzelte Bluttropfen fanden ihren Weg auf die Wolldecke. Ich blinzelte heftig, hielt die Hand schützend vor die Augen. Die Sonne stand schon ziemlich tief, ich hatte offenbar einige Stunden geschlafen, und das brennende Gefühl auf meiner Haut ließ mich annehmen, dass ich den Strahlen wohl zu lange ausgesetzt gewesen war. Das Blut und das Brennen waren mir jedoch egal. Ich suchte das Gold.
***
Der dreibeinige Hund hat seinen Kopf auf das Bein des alten Mannes gelegt und fährt erschrocken hoch, als ihm ein Tropfen auf die Nase fällt. Verwirrt blickt er sich um und versucht ein Knurren, das jedoch als merkwürdiges Hauchen im Halse stecken bleibt.
«Ich habe das Gold verloren. Für ein paar Stunden war es da. Seither suche ich es. Vergeblich. Immerhin weiß ich, was ich suche.»
Der alte Mann krault den dreibeinigen Hund hinter dem Ohr. Dann wischt er eine Träne aus dem Augenwinkel.
«Gold ist furchtbar, mein Freund. Und wunderschön.»
