Wie jede Blüte welkt und jede Jugend dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe, blüht jede Weisheit auch und jede Tugend zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern. Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe bereit zum Abschied sein und Neubeginne, um sich in Tapferkeit und ohne Trauern in neue, and’re Bindungen zu geben. Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft zu leben. Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten, an keinem wie an einer Heimat hängen, der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen, es will uns Stuf’ um Stufe heben, weiten. Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen, nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise, mag lähmender Gewöhnung sich entraffen. Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde uns neuen Räumen jung entgegensenden, des Lebens Ruf an uns wird niemals enden… Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!
Hermann Hesse
01
Es ist sein letzter Tag auf Erden. Er weiß es. Niemand sonst. Morgen früh wird er nicht mehr erwachen. Er blickt aus dem Fenster seiner Wohnung, die Sonne scheint hinein. Heute sieht er sie zum letzten Mal, sie wird nie mehr aufgehen, nur einmal noch untergehen. Wenn er Pech hat, ist Leermond oder der Himmel bewölkt in der Nacht, und er kann sich nicht mehr vom Mond verabschieden. Er nimmt den Kalender, sucht den heutigen Tag. Vor drei Tagen war Halbmond, er nimmt weiter zu, also kann nur das Wetter einem letzten Treffen im Wege stehen. Im Moment ist der Himmel noch wolkenlos.
In seinen zittrigen Händen hält er eine Fotografie. Zwei junge Männer und eine Frau sind zu sehen, die Jungen haben die blonden Haare ihrer Mutter.
02
Er sitzt in seinem Lieblingssessel, der einzige Platz im Wohnzimmer, den er noch belegt. Der Rest ist Zier, Umgebung.
Seine Frau hat ihn verlassen. Sie ist einfach gestorben, Krebs. Musste nicht lange leiden, schön für sie, doch kein Trost für ihn. Sie hat ihn allein gelassen, allein mit sich, den er immer weniger leiden konnte seither.
03
Jetzt zieht also das ganze Leben als Film vor dem inneren Auge nochmals vorbei. Jetzt erlebt er also alles noch einmal. Er wartet auf den Anfang des Filmes, wartet auf die Bilder, doch eigentlich hat der Film schon lange begonnen, die Bilder sind heute auch nicht anders als in den vergangenen Jahren. Es ist die letzte Vorstellung, das ist der einzige Unterschied.
Es ist gut, dass er keine Schmerzen hat. Keine physischen. Die anderen Schmerzen sind auch bald vorbei, nur noch einige Stunden.

04
Die Hundeleine liegt auf dem Tisch. Schon seit Bingo weg ist, seit diese Frau ihn überfahren hat. Er sieht ihren Wagen und den Baum, den er getroffen hat, nur am Rande, nur ganz klein. Bingo liegt übergroß auf der Straße, blutend und mit leerem Blick.
Er nimmt die Leine in die Hand, dreht sie hin und her. Er schüttelt sie, stellt sich vor, der Hund ziehe daran. Die Verbindung zwischen ihm und Bingo, nun läuft sie ins Leere.
05
Sein Blick fliegt aus dem Fenster, er kann nicht mehr allzu weit sehen, aber er weiß, dass es da draußen auch nicht mehr viel zu sehen gibt. Und was es zu sehen gibt, hat er bereits gesehen, wahrscheinlich schon viel zu oft. Und die allfälligen neuen Dinge sind sowieso nicht gut.
Alles verschwand und verschwindet. Dinge kommen und gehen, und nun ist fast alles gegangen, nur er ist noch da. Er ist noch übrig.
06
Fragt man sich das am Ende? Ob es sich gelohnt hat, das Leben? Stellen sich alle diese Frage? Oder gibt es Menschen, die eine Antwort wissen? Menschen, deren Antwort ein lautes ‚Ja!’ ist oder ein trauriges ‚Nein’? Er weiß nicht, ob er seiner Umgebung und sich selbst Unrecht tut, wenn er zu einer Verneinung tendiert.
Die Anspannung, die Verkrampfung, alles löst sich langsam. Die Schultern fallen herab, sie zucken nicht mehr, das haben sie schon viel zu oft. Er fühlt sich leicht und trotzdem schwer.
07
Sie waren lange verheiratet, er und seine Frau. Neununddreißig Jahre. Eigentlich sind sie es ja noch immer, nur ist sie nicht mehr da. Schon seit zwölf Jahren nicht mehr. Viel lieber wäre er zuerst gegangen, sie hätte mehr Kraft gehabt zum Alleinsein. Oder vielleicht auch nicht, zum Leben hatte sie schließlich auch nicht mehr Kraft.
Ein letztes Mal streicht er Butter auf ein Brot. Viele Dinge wird er heute zum letzten Mal tun, eigentlich alles, was er überhaupt noch tun wird. Und viele Dinge hat er schon vor mehr oder weniger langer Zeit zum letzten Mal getan. Lächeln. Lachen. Weinen. Rennen. Reden. Die Schuhe schnüren. Aufwachen.
08
Kann er stolz sein? Ist es überhaupt wichtig, stolz zu sein? Was bringt es, zurückzublicken und zu lächeln und mit erhobenem Kopf auf die Vergangenheit zu deuten? Was bringt die Vergangenheit überhaupt?
Immer wieder die Hundeleine, immer wieder nimmt er sie in die Hand, legt sie wieder auf den Tisch, wird bedrückt und erdrückt von ihrer Nutzlosigkeit.
09
Die Schande. Sein Fleisch und Blut, sein eigener Sohn hat Menschen umgebracht, einen Mann und eine Frau, die mit ihrem Kind ein Picknick im Wald machten. Sie haben ihm nichts getan, doch er hat sie getötet. Dann hat er seinen Sohn getötet, ohne ein Mörder zu werden. Er hat ihm das Leben genommen, das Leben seines Sohnes in seinem eigenen Leben. Wahrscheinlich sitzt er noch immer im Gefängnis, vielleicht ist er auch wieder auf freiem Fuß. Vielleicht ist er auch für die anderen Menschen gestorben, vielleicht lebt er nicht mehr auf dieser Erde, ist nicht nur aus seiner Welt verschwunden.
Seine Hände zittern schon seit Jahren. Auch als er noch jung war, konnte er sie kaum still halten. Und es wurde immer schlimmer, doch nun sind sie plötzlich ruhig.
10
Die Stunden vergehen zähflüssig und langsam, wie Wachs tropfen sie von der Kerze, dem Licht seines Lebens. Vielleicht hätte er die Kerze bereits früher löschen sollen, hätte sie einfach ausblasen sollen, ohne zu warten, bis sie herunterbrennt. Doch jetzt dauert es nicht mehr lange, der Nachmittag wird immer älter.
Nichts ist anders als sonst, außer der Gewissheit.
11
Der andere Sohn ist ausgewandert. Nach Australien. Auch er ist weg. Nur an Weihnachten existiert er kurz, auf einer Weihnachtskarte. Viele Grüße aus…
Warum soll man am letzten Tag alles noch einmal überdenken, noch einmal reflektieren, wo man sein ganzes Leben lang, zumindest von einem frühen Punkt an, nichts anderes getan hat? Heute ist nicht anders als gestern als vor fünf Jahren, und auch er ist derselbe Mensch.
12
Immer wieder im Sessel, wartend. Die Dämmerung setzt ein, und irgendwie wird er unruhig und nervös, fühlt sich wie ein Kind. Intensiver als zu der Zeit, als er wirklich Kind war.
Er hat das Gefühl, er müsse sich von jemandem verabschieden, doch es ist niemand mehr da, dem er Lebewohl sagen könnte. Alle sind schon vor ihm gegangen, er ist der letzte Besucher auf der Party.
13
Die Müdigkeit, die er braucht, um einzuschlafen, sie will nicht kommen. Die andere Müdigkeit, die vom Leben, die ist immer in ihm. Doch die reicht nicht für den Schlaf. Er überlegt, ob er wohl noch einmal träumen wird, und wenn ja, wovon. Und wofür, wenn er sich nicht mehr erinnern können wird.
Er müsste das Licht einschalten, um noch zu sehen, doch er lässt es.
14
Noch einmal öffnet er das Fenster, saugt die frische Nachtluft ein. Der Lärm der Straße, die Lichter, sie sind so fremd und so weit entfernt. Der Mond geht auf. Er lächelt, winkt kurz und schließt das Fenster wieder.
Ohne Mühe kann er durch das dunkle Zimmer gehen, ohne sich an den Möbeln zu stoßen. Er kennt sein Leben viel zu gut, viel lieber würde er kollidieren.
15
Er geht ins Badezimmer, macht das Licht an. Ein alter Mann blickt ihm entgegen. Seine Augen sind tot. Er nimmt das Gebiss aus dem Mund, legt es ins Waschbecken. Die Hand fährt durch das weiße, schüttere Haar. Die beiden alten Männer schauen sich lange an, dann löscht er das Licht.
Bevor er ins Schlafzimmer geht, entriegelt er die Wohnungstüre.
16
Die Stille dröhnt in seinen Ohren, dumpf und betäubend. Die Welt scheint stillzustehen, abgeschaltet oder bereits eingeschlafen. Die Stille, sie transportiert nicht nur das Fehlen von Geräuschen, auch weckt sie immer wieder Gedanken und Fragen. Fragen, die auch in den Ohren dröhnen, Fragen, welche die stillstehende, abgeschaltete, eingeschlafene Welt ihm nicht beantworten kann, es noch nie konnte.
Er liegt im Bett. Vorbeifahrende Autos lassen ihre Scheinwerfer in seinem Zimmer an den Wänden tanzen. Wenn er nun die Augen schließt, sieht er die Tänze nicht mehr. Wenn er nun die Augen schließt, dann sieht er die Umrisse der Möbel nicht mehr. Wenn er nun die Augen schließt, sieht er nichts mehr. Wenn er nun die Augen schließt, wird er sie nie mehr öffnen. Wenn er nun die Augen schließt, ist es endgültig.
17
Er schließt seine Augen.