PDF: Luna.
Für eine beträchtliche Anzahl Menschen sind kunststoffbehandschuhte Hände von Männern oder Frauen in weissen Kitteln der erste Kontakt mit der Welt ausserhalb des Mutterkörpers. Meistens sind diese Hände nicht sonderlich zärtlich oder sanft, sondern gleichen eher der Charakteristik fettiger Greifwerkzeuge von Schnellrestaurantangestellten, die ein in eine bunte Kartonschachtel verpacktes Nahrungsmittelimitat auf ein Tablett legen. Und wenn die neuen Menschen dann auf der Welt sind, werden sie ebenfalls auf ein Tablett gelegt, werden gewogen und gemessen und schliesslich in bunte Kartonschachteln gepackt. Letzteres kommt eher selten vor, höchstens dann, wenn die kunststoffbehandschuhten Hände der Männer und Frauen in weissen Kitteln auf eine Vergangenheit als Greifwerkzeuge von Schnellrestaurantangestellten zurückblicken.
Nun, für eine beträchtliche Anzahl Menschen sind kunststoffbehandschuhte Hände von Männern oder Frauen in weissen Kitteln der erste Kontakt mit der Welt ausserhalb des Mutterkörpers, doch längst nicht für alle. Zu den Menschen, deren erster Kontakt mit der Welt ausserhalb des Mutterkörpers keine kunststoffbehandschuhte Hand eines Mannes oder einer Frau in einem weissen Kittel war, gehört Luna. Denn Luna kam nicht dort zur Welt, wo die Männer und Frauen in weissen Kitteln arbeiten, sondern dort, wo der Mutterkörper zu Hause war. Und der erste Kontakt mit der Welt ausserhalb des Mutterkörpers war bei Luna keine Hand, auch kein Fuss oder ein anderes Körperglied eines Mannes oder einer Frau, sondern ein Kissen. Dieses hatte sich zum Zeitpunkt von Lunas Niederkunft gemütlich an den Mutterkörper gekuschelt, ohne Böses oder Gutes zu ahnen, und plötzlich sah es sich mit einem Bündel Mensch konfrontiert. Es erschrak heftig, doch nach einigen Minuten hatte es sich wieder beruhigt und war auf eine seltsame Art und Weise stolz, der erste Kontakt für jenes Bündel Mensch namens Luna gewesen zu sein.
Luna ihrerseits war durch ihre eigene Geburt so verwirrt, dass sie kaum bemerkte, worauf sie da gelandet war, obschon sie die Weichheit des Kissens durchaus zu schätzen wusste. Eigentlich wollte sie ihre Ankunft mit lautem Schreien manifestieren, wusste sie doch aus Büchern, die ihre Mutter gelesen hatte, dass dies das übliche Verhalten von Neugeborenen war. Doch irgendwie war sie nicht in der Stimmung, um zu schreien. Zu sanft war sie angekommen, zu angenehm war es, auf diesem Ding zu liegen, von dem sie erst später erfuhr, dass es sich um ein Kissen handelte. Also liess sie den Teil mit dem Schreien aus und fiel direkt in ihren ersten Schlaf auf Erden.
Als sie erwachte, lag sie nicht mehr auf dem Kissen, sondern auf einer Matratze, direkt neben jener Person, in welcher sie sich bis vor wenigen Stunden noch aufgehalten hatte. Es war schön da, doch irgendwie vermisste sie ihr Kissen. Mehrere Tage, Wochen und Monate lang sah sie es nicht, wusste nicht, ob es noch lebte. Doch dann wurde sie von ihrer Mutter durch die Wohnung getragen, und als sie in einer Ecke eben jenes Kissen erspähte, richtete sie aufgeregt ihren kleinen Zeigefinger darauf. Ihre Mutter, eine kluge Frau, verstand schnell und brachte Luna zum Kissen, legte sie darauf ab. Luna lächelte und versuchte alles, um ihrer Mutter klarzumachen, dass sie gerne auf dem Kissen lag. Und schliesslich wurde Luna und dem Kissen erlaubt, im gleichen Bett zu schlafen.
Die Jahre gingen vorüber. Manche trugen Turnschuhe, andere wiederum hässliche Wanderstiefel, einige waren sogar barfuss. Lunas Bett wurde grösser, denn Luna selbst tat dies auch. Doch das Kissen blieb bei ihr, jede Nacht umarmte sie es. Einmal wurde das Kissen von der Mutter entführt, unter dem Vorwand, gewaschen zu werden, und Luna konnte zwei Nächte lang nicht schlafen. Weitere Entführungen blieben fortan aus. Vorläufig.
Als Luna sechzehn Jahre alt war, begann ihre Mutter zu drohen, ihr das Kissen erneut wegzunehmen. Sie sei nun eine junge Frau, und junge Frauen würden zwar ihre Köpfe durchaus auf Kissen betten, aber nicht unbedingt auf das gleiche Kissen, das den Aufprall bei der Geburt gedämpft hatte. Ihre Mutter, sonst äusserst redegewandt, rang um Worte, um zu erklären, weshalb sie sich von ihrem Kissen zu trennen hatte, doch Luna weigerte sich. Noch immer hielt sie das Kissen im Schlaf umklammert, hatte zudem angefangen, mit ihm zu sprechen. Nachdem Frau Nacht den Dämmerungskampf gegen Herrn Tag gewonnen hatte, pflegte Luna einige Kerzen anzuzünden und dem Kissen noch lange zu erzählen, wie ihr Aufenthalt bei erwähntem Herrn gewesen sei, was ihr durch den Kopf ging und rannte, wovon sie träumte und wovor sie sich fürchtete. Das Kissen hörte aufmerksam zu, ohne etwas zu sagen, doch Luna störte sich nicht an dieser Schweigsamkeit. Sie hatte sich daran gewöhnt, mehr als das. In jenen Momenten, in denen Luna allein mit dem Kissen in der Dunkelheit lag, war sie glücklich. Doch das Leben bestand auch noch aus anderen Momenten. Momente ohne Kissen. Und in diesen Momenten war Luna nicht glücklich.
Kurz vor Lunas achtzehntem Geburtstag setzte ihre Mutter die Entführungsdrohungen in die Tat um und nahm das Kissen gewaltsam an sich, versteckte es in einem Schrank. Bis zu jenem Augenblick war ihre Mutter die wichtigste Person für Luna, fast so wertvoll wie das Kissen, welches aber in Ermangelung eines funktionierenden Nervensystems nicht als Mensch bezeichnet werden darf. Doch als sie ihr das Kissen raubte, ging in Luna etwas in die Brüche. Etwas starb in ihr und liess sie beinahe sprachlos zurück. Aber nur beinahe. Denn nachdem sie ihr Kissen aus dem Schrank befreit und es zusammen mit ihren anderen Sachen in einen schmucklosen Koffer gepackt hatte, rief sie noch ein tränendurchweichtes ‚Ich gehe!’ in das Zimmer ihrer Mutter. Und ging.
Achtzehn Jahre lang hatte Luna zwischen zwei Polen gelebt, ihrer Mutter und ihrem Kissen. Sie hatten sie in einem Gleichgewicht gehalten, doch nun hatte ein Pol seine Magnetkraft verloren, und Luna fiel hin. Auf sich allein gestellt, machte sie sich auf die Suche nach Menschen, um die Rolle ihrer Mutter neu besetzen zu können. Diese Suche, sie war ungewohnt, denn bisher hatte sie erfolgreich eine Mauer aufgebaut, um Menschen von ihrem Leben fernzuhalten. Nun musste sie erst auf diese Mauer klettern, auf der anderen Seite wieder hinuntersteigen und sich der Fremdheit stellen, die durch die Mauer entstanden war. Was in einem Satz zusammengefasst ist, dauerte in Lunas Welt drei Jahre.
In diesen drei Jahren gelang es ihr immerhin, eine eigene Existenz aufzubauen. In einem kleinen Laden, der einem etwa hundertfünfzigjährigen Mann gehörte, verkaufte sie Dekorationsartikel, Kerzen, Duftöle und andere Kleinigkeiten, die das Leben schöner, lebenswerter machen. Luna benötigte lange Zeit, um die Magie der kleinen Dinge zu erkennen. Am Anfang belächelte sie die Kunden, verstand nicht, wie jemand sich an einer Holzschale mit grauen Steinen, am Duft von Orangenessenzen oder an Tränen aus Glas erfreuen konnte. Doch allmählich lernte sie, in den Augen der Menschen zu lesen, das Glänzen darin zu erkennen. Und sie nahm einen Gedanken wahr, der ihr eigentlich überhaupt nicht gefiel: War ihr Kissen nicht auch nur eine Holzschale mit grauen Steinen, ein Duft von Orangenessenzen oder eine Träne aus Glas, nur in anderer Form? Noch weniger behagte ihr die Antwort, denn im Vergleich zu ihren Kunden, die wohl auch ohne Holzschalen mit grauen Steinen, den Duft von Orangenessenzen oder Tränen aus Glas leben konnten, wollte und konnte sie sich ihre Welt nicht ohne ihr Kissen vorstellen.
Ihre kleine Wohnung, die direkt über dem Laden des etwa hundertfünfzigjährigen Mannes lag, hatte sie immer mehr mit den scheinbar unnützen Dingen dekoriert, die sie eine Etage tiefer verkaufte. Eines Tages, als sie die Treppe hinunter zur Arbeit ging, klebte sie einen Zettel an die Wohnungstüre, auf den sie die Worte ‚Das ist mein Zuhause’ geschrieben hatte. Nach dem Feierabend stieg sie zu ihrer Wohnung hinauf und las den Satz einige Male durch. Dann nickte sie und trat ein.
Luna war einundzwanzig Jahre alt, als sie zum ersten Mal ohne ihr Kissen schlief – während der Waschpause in ihrer Kindheit war sie ja wach geblieben. Zwar lag das Kissen wie gewohnt am Kopfende ihres Bettes, doch Luna hatte sich nach einem entspannenden Bad auf die Couch gelegt, unter eine wärmende Wolldecke. Und während im Fernsehen ein fürchterlich langweiliger Film lief, schlief Luna ein. Am nächsten Morgen erwachte sie und merkte sofort, dass etwas nicht stimmte. Das Kissen fehlte. Es war nicht nur einfach nicht da, sondern es fehlte, fehlte ihr. Aufgewühlt lief sie ins Schlafzimmer, nahm das Kissen vom Bett und hielt es an ihre Wange. Eine Träne benetzte den Stoff, der schon lange nicht mehr so weich und sanft war wie noch an jenem Tag, als Luna und das Kissen sich zum ersten Mal trafen. Leise schluchzend versprach sie, nie mehr ohne Kissen zu schlafen. Doch bereits die nächste Nacht verbrachte sie erneut auf der Couch, wieder ohne Kissen. Die übernächste Nacht ebenfalls. Und allmählich fiel ihr auf, dass das Erwachen am Morgen immer weniger schmerzte. Zwar wollte sie das Kissen nicht verlieren, es war noch immer das Wichtigste in ihrem Leben. Doch der Gedanke an Momente ohne Kissen liess die Angst nicht mehr aus all ihren Poren dringen.
Es war im Januar eines Jahres, das sich seines Alters schämt und deshalb nicht genannt werden will, als Lunas Leben aus den geregelten Bahnen geriet. Bis anhin verbrachte sie ihre Tage im Laden des Methusalems, legte sich am Abend auf die Couch, schaute fern, las Bücher, und an Wochenende ersetzte sie die Arbeit durch lange Spaziergänge. Doch an jenem Sonntag ging sie nicht wie gewohnt durch die nahen Wälder und Felder, sondern stand im Laden. In Anbetracht und Würdigung seines hohen Alters hatte Methusalem von höchster Regierungsstufe die Erlaubnis erhalten, sein Geschäft zu öffnen, wann er Lust dazu hatte. An jenem Sonntag hatte er Lust, doch er war auf Lunas Hilfe angewiesen, denn er selbst konnte mit den Tasten der Kasse nichts anfangen, und beim Anblick des Kreditkartenterminals meldete sich ein unschöner Ausschlag auf seiner Haut. Luna verzichtete also auf ihren Spaziergang und arbeitete. Ziemlich früh am Morgen, es war etwa sieben Uhr, trat der erste Kunde in den Laden.
Nachdem er sein Knie am gusseisernen Schirmständer gestossen hatte, fiel er beinahe über einen imaginären Hund, der seit Jahren auf dem Teppich beim Eingang lag. In letzter Sekunde konnte er sich auffangen und auf den Beinen halten. Unbeholfen stolperte er vorwärts, blieb mit seinem Schal an einer asiatisch anmutenden Skulptur hängen, die dies wiederum nicht verkraftete und sich fatalistisch vom Regal stürzte. Doch bevor sie sich auf dem Boden in Einzelstücke zerteilen konnte, traf sie die Hand des Mannes, der kurz zuvor so unsanft an ihr gezerrt hatte und sie nun mit lockerem Griff vor dem sicheren Tod bewahrte und wieder auf das Regalbrett stellte. Seine Reaktionsschnelligkeit war beeindruckend, doch noch beeindruckender war die Ruhe, mit der er seine Rettungsaktion durchführte. Luna, die das Geschehen amüsiert betrachtet hatte, war von all diesen Beeindruckungen dann auch ehrlich beeindruckt und zeichnete die Konturen eines staunenden Blickes auf ihr Gesicht. Der beeindruckende Skulpturenretter trat zu ihr an den Tresen und räusperte sich.
«Hast du den Mond auch gesehen?»
Mit dieser Frage hatte Luna nicht wirklich gerechnet und bekundete entsprechende Mühe, eine passende Antwort zu finden.
«Was?» Mehr fiel ihr nicht ein.
«Der Mond. Du weisst schon, dieses leuchtende Ding, das manchmal am Himmel hängt.»
«Ja, den kenne ich schon. Was ist denn mit ihm?» fragte Luna und stellte fest, wie ihre Mundwinkel sich ungefragt nach oben bewegten.
«Vollmond. Er sieht wunderschön aus. Wie ein schüchternes Kind versteckt er sich hinter den Dunstwolken der sterbenden Nacht, doch dieser Schleier macht ihn nur noch zauberhafter. Ich hätte am Liebsten geweint, vorhin, da draussen.»
Bevor Luna die Worte des seltsamen Mannes vollkommen in sich aufnehmen konnte, schlich dieser bereits um die Regale und lächelte immer wieder in sich hinein und aus sich heraus. Schliesslich nahm er einen Kerzenhalter in die Hände und kehrte zum Tresen zurück.
«Den nehme ich.»
«Der ist schön.»
Er gefiel Luna wirklich. Wahrscheinlich war er ihr liebstes Stück im Laden, und wäre er nicht so teuer gewesen, hätte sie ihn schon längst selbst gekauft. Der Kerzenhalter hatte die Form einer Hand, mit leicht gekrümmten Fingern. Mit diesen Fingern pflegte Luna nicht selten ihre Wange zu streicheln, wenn Methusalem gerade ein Nickerchen machte. Sie konnte es sich nicht erklären, doch irgendwie taten ihr diese Berührungen gut. Und nun kaufte dieser bizarre Mann ihr den Kerzenhalter einfach weg.
«Soll ich ihn einpacken?» fragte sie und war sich bewusst, dass ihr Blick von lächelnd zu traurig gewechselt hatte.
«Ja, sehr gerne. Ist ein Geschenk.»
Luna wollte sich die Frage gar nicht stellen, wer dieses Geschenk wohl erhalten durfte, doch sie drängte sich auf, die Frage, und mit ihr ein Neid, den sie in dieser Form gar nicht kannte. Sie schob die Gedanken beiseite und packte den Kerzenhalter in das hässlichste Geschenkpapier, das sie finden konnte.
Nachdem sie ihm den Kerzenhalter überreicht und im Gegenzug ein Bündel bunter Geldscheine entgegengenommen hatte, drehte sich der Mann um und ging zur Tür. Doch statt sie zu öffnen, machte er noch einmal kehrt und kam zurück zu Luna.
«Tut mir leid, das Geschenkpapier ist nicht sonderlich schön», versuchte sie sich zu rechtfertigen.
Der Mann sagte nichts. Einige Sekunden betrachtete er das Geschenk in seiner Hand und streckte diese schliesslich aus, in Lunas Richtung.
«Hier. Ist für dich.»
Irgendjemand legte ein Heizkissen um ihr Herz, und beinahe verlor Luna die Kontrolle über ihre grundlegenden Körperfunktionen. Bevor ihre Knie endgültig zu Pudding wurden, stützte sie sich auf den Tresen und schluckte ein wenig Luft, um den Bauch zu kühlen.
«Willst du es nicht mehr?» fragte sie.
«Ich sagte ja, es ist ein Geschenk. Für dich.»
«Warum für mich?»
«Wegen deinem Lächeln vorhin. Und weil wohl niemand sich diesen Kerzenhalter so sehr wünscht wie du. Und manchmal, manchmal dürfen Wünsche ruhig in Erfüllung gehen.»
Nun kam der Pudding doch noch, und Luna tauchte kurz unter den Tresen. Allerdings fiel sie nicht hin, sondern wurde von den Händen des Mannes sanft gepackt und wieder aufgerichtet.
«Geht’s?» wollte er wissen.
«Ich… Ich… habe das nicht verdient», stiess Luna hervor, während ihr Blickfeld von Sternen überdacht wurde.
«Doch. Mehr als irgendjemand sonst.»
«Aber… Ich kann das nicht annehmen», flüsterte sie.
«Versuch es. Annehmen ist nicht leicht, ich weiss. Aber ich hoffe, du schaffst es. Würde mir viel bedeuten.»
Es folgte eine Ja-Nein-Diskussion, die sich über mehrere Minuten hinzog, bis Luna schliesslich nicht mehr Nein sagen konnte. Auch alle anderen Worte schienen aus ihrem Wortschatz gestrichen zu sein, nur eines blieb noch übrig.
«Danke.»
«Gern geschehen. Nun, du solltest wenigstens wissen, wer dir den Kerzenhalter aufgedrängt hat. Mein Name ist Perigäum.»
Perigäum. Luna musste in unzähligen Lexika und Fachbüchern nachschlagen, bis sie herausfand, dass mit diesem Begriff der erdnächste Punkt der Mondumlaufbahn bezeichnet wird. Sie tat dies, gleich nachdem sie an jenem Tag von der Arbeit nach Hause gekommen war. Den Rest des Abends verbrachte sie damit, abwechselnd den Himmel nach dem Mond abzusuchen und die Hand auf ihrem Tisch zu betrachten. Als sie sich ins Bett legte, waren ihre Gedanken noch immer bei Mond und Hand und Perigäum, und sie bemerkte erst gar nicht, wie sie ihr Kissen unbewusst vom Bett schob. Als sie noch einmal aufstand, um einen Schluck Wasser zu trinken, stolperte sie über das Kissen, doch sie bückte sich nicht, um es wieder aufs Bett zu legen, sondern liess es an seinem Platz.
Der nächste Tag war süsser Horror, doch einen weiteren Tag später tauchte Perigäum wieder bei ihr im Laden auf. Dieses Mal stieg er elegant über den imaginären Hund am Eingang und kam zu ihr an den Tresen, ohne dabei etwas vom Regal zu schubsen.
«Hallo», sagte Luna schnell, um sich selbst von ihrer Nervosität abzulenken.
«Hallo», gab Perigäum zurück. «Kein Mond am Himmel. Oder doch, er ist wohl da, aber es ist zu bewölkt, um ihn sehen zu können. Wie geht es der Hand?»
Luna lächelte. Sie konnte nicht anders. Einen Moment dachte sie darüber nach, wie selten sie bisher gelächelt hatte in ihrem Leben. Dann bemerkte sie wieder die Heizdecke auf ihrem Herzen, und aus dem Lächeln wurde ein Lachen, was wiederum ein noch viel selteneres Phänomen für sie war.
«Der Hand geht es gut.»
«Und wie geht es dir?»
Sie wollte bereits ein automatisches Gut aus ihrem Mund entweichen lassen, doch im letzten Moment gelang es ihr, die Lippen zusammenzupressen. Sie dachte über die Frage nach. Vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben. Der Film, der mutmasslich im letzten Moment des Sterbens läuft, sie sah ihn vor sich, mit der letzten Szene. Dem Kissen am Boden.
«Gut. Danke, es geht mir gut.»
«Sehr schön.»
Perigäum lächelte, und trotz schiefen gelben Zähnen und einer kleinen Narbe am Kinn war sich Luna sicher, noch nie etwas Schöneres gesehen zu haben.
«Fehlt sie dir?“ wollte sie wissen. Eigentlich wollte sie es gar nicht wissen, sondern einfach etwas sagen. Etwas, das ihn noch ein wenig länger an ihrer Theke halten sollte.
«Wer? Die Hand?»
«Ja, die Hand. Wenn sie dir fehlt, kannst du sie jederzeit besuchen kommen.»
Luna war von ihrem Vorpreschen so überrascht, dass sie sich am Liebsten in ein Schneckenhaus zurückgezogen hätte, doch aufgrund seiner Gastropodaphobie hatte Methusalem jede Art von Schnecken aus seinem Laden verbannt. Und Luna konnte sich nicht verstecken.
«Ich komme gerne.»
Am nächsten Tag stand Perigäum tatsächlich in ihrer Wohnung. Er war so unangekündigt gekommen, dass Luna keine Zeit hatte, ihr Kissen zu verstecken. Sie wusste nicht, wem sie damit einen Gefallen tun wollte, dem Gegenstand, der ihre erste Begegnung des Lebens war, oder dem seltsamen Mann, der ihr eine Heizdecke ums Herz gelegt hatte. Sie hatte nur das unerklärliche Gefühl, dass sich die beiden nicht sonderlich gut verstehen würden. Und sie fürchtete, dass die beiden zu viel gemeinsam hatten. Doch eben, sie hatte es nicht geschafft, das Kissen rechtzeitig im Wandschrank zu verstauen. Als Luna und Perigäum nach einem wunderschönen Abend ihr Schlafzimmer betraten, lag das Kissen noch immer auf dem Boden. Ohne Vorwarnung trat Perigäum zu ihm, nahm es in die Hände und roch daran.
«Du solltest dein Kissen nie einfach so liegen lassen. Es gibt nichts und niemanden, der mehr Zeit in deiner Nähe verbracht hat.»
Luna löschte rasch das Licht. Dies war kein guter Moment, um ihre feuchten Augen zum ersten Mal jemandem zu zeigen, der nicht die Form eines Kissens hatte. Doch für alles andere war es ein guter Moment. Der beste Moment bis dahin.
Ein wenig nervös ist Luna durchaus, als sie an der Türe klingelt, sehr sogar. Nicht nur viele Jahre sind vergangen, sondern ein ganzes Leben. Ende und Neubeginn. Was sie damals war, ist sie längst nicht mehr. Sie fragt sich, ob ein Wiedererkennen überhaupt noch möglich ist. Perigäum steht neben ihr, drückt mit der einen Hand ihre Hand und hält mit der anderen Hand eine Hand, sein Geschenk, fest umklammert. Sein Blick spricht Worte der Beruhigung, erzählt von einer Welt ohne Angst. Dann öffnet sich die Türe, und zuerst ist da nur dieser Duft von Orangenöl, eine Erinnerung an ihre Kindheit, an ihr Leben vor dem Leben. Doch dann steht sie da, im Türrahmen, und Luna schaut ihr in die Augen. Sucht nach Zeichen, sucht nach sich selbst in ihr.
«Es ist nicht verloren, oder?» fragt Luna leise.
Ihre Mutter schüttelt den Kopf. Es ist noch da. Auch das, neben allem anderen. Es ist noch da.