Er liebt seine Eltern, wie ein Sohn seine Eltern eben liebt, doch für eine Sache könnte er ihnen jeden Tag eine Bratpfanne mit Teflonbeschichtung über die immer grauer werdenden Schädel ziehen. Bei der Wahl seines Vornamens bewiesen sie ein beträchtliches Mass an Phantasie, liessen aber jede Rücksichtnahme vermissen. Und nun zittert er vor jedem Fragebogen, vor jedem Termin auf öffentlichen Ämtern, vor jeder Preisgabe seines Vornamens. Und er hat genug von Sätzen wie „Nein, den Vornamen bitte!“ – gesprochen von einer dicken alten Frau, die das Leben mit einer Arbeitsstelle beim Steueramt bestraft hat – oder „Was ist denn das für ein Vorname?“ – gefragt von einem ebenso dicken jungen Mann am Postschalter. „Henlein?“
Natürlich konfrontierte er auch seine Eltern einst mit dieser Frage, beladen mit einem gewissen Groll, hatte er doch schon in früher Kindheit unschöne Erfahrungen mit seinem Vornamen und vor allem dessen mangelnder Akzeptanz bei Mitmenschen gemacht. Sein Vater verzichtete darauf, die Antwort in hörbare Worte zu kleiden, sondern griff in sein Bücherregal und holte ein altes Buch mit dem Titel Die Geschichte der Zeitmessung und der Uhren hervor. Er blätterte einige Seite um und deutete auf ein Bild, das seinen Ursprung am Anfang des sechzehnten Jahrhundert hatte. Peter Henlein, stand darunter, Erfinder der Taschenuhr. Um diesem Hinweis zusätzliches Gewicht zu verleihen, nahm der Vater seine Taschenuhr hervor und liess sie an der goldenen Kette hin und her pendeln, bis sein Sohn einschlief.
Während sein Vater lediglich das Buch über die Uhrengeschichte mochte und es vor allem benutzte, um Herbstlaub zu pressen, war Henlein von den Wurzeln seines verhassten Vornamens so fasziniert, dass er seine berufliche Laufbahn in die Uhrenindustrie dirigierte. Nach einer Ausbildung in Grenchen eröffnete er sein eigenes Geschäft, das er Henleins Uhren nannte. Und bereut seither die Wahl des Firmennamens, weil er seinem Vornamen so noch viel weniger aus dem Weg gehen kann.
Henlein weiss nicht, ob alle Uhrmacher seltsame Menschen sind, doch er weiss, dass er selbst Uhrmacher und ein seltsamer Mensch ist. Und diese Seltsamkeit kommt ihm ganz gelegen, denn den Menschen – ob Uhrmacher oder nicht – begegnet er mit einer üppigen Portion Skepsis, die er als Achtzehnjähriger in einem Skepsis-Fachgeschäft in Paris erworben hatte. Bedauert hat er diesen Kauf noch nie. Doch manchmal fragt er sich, ob sein Leben wohl anders verlaufen wäre, wenn er damals nicht ins Skepsis-Regal gegriffen hätte. Und ob er seine Brille wohl von Anfang an bei Fielmann hätte kaufen sollen.
Da alle Konjunktive in der Realität nicht viel nützen, findet sich Henlein damit ab, dass er sich nicht gut und gern in die üblichen sozialen Strickwerke der Menschen einlässt, es nicht wirklich kann und nicht wirklich will. Zwar handelt es sich beim grössten Teil seiner Kundschaft um Menschen, doch sie empfängt er mit der notwendigen Professionalität. Und sonst beschränkt er Kontakte mit Menschenwesen auf seine Eltern, die er jeden Sonntagabend besucht.
Vielleicht hätte er den Rest seines Lebens damit zugebracht, den Menschen aus dem Weg zu gehen, in aller Ruhe Unruh und andere Uhrenteile zu reparieren und sich keine menschenfreundlichen Gedanken zu machen. Doch seit einiger Zeit sind die Gedanken da. Sind einfach so aufgetaucht, wie ein Finnwal aus dem Meer, wie eine Sternschnuppe am Nachthimmel. Wie jene Frau im Restaurant.
Es war vor einigen Tagen. Henlein sass wie jeden Abend an seinem gewohnten Tisch im gewohnten Restaurant und ass seinen gewohnten Salat. Normalerweise verschwendete er seine Zeit nicht damit, die anderen Gäste anzusehen, doch an jenem Abend liess er seinen Blick kurz schweifen. Dieser traf nichts Interessantes, blieb dann aber plötzlich hängen und liess sich nicht mehr bewegen. Henlein drängte seinen Kopf zur Seite, drückte sogar mit aller Kraft seine Augenlider zusammen, doch der Blick liess nicht von seinem Ziel ab. Dort, zwischen lauthals politisierenden Senioren, unverständlich grummelnden alten Männern und aufgeregt zwitschernden Damen mit auftoupierten Haaren, sass ein Wesen, eine Frau, die in ihrer unaufgeregten und umso aufregenderen Schönheit seinen sonst ziemlich folgsamen Blick fesselte. Rote Haare umspielten ein zartes Gesicht, in dem sich zwar die üblichen zwei Augen, Nase und Mund befanden, sich jedoch in einer solch zauberhaften Weise ergänzten, die Henlein noch nie gesehen hatte. Die Frau kaute jeden Bissen ihrer Mahlzeit sorgfältig, ein hin und wieder aufblitzendes Lächeln der Zufriedenheit liess auf Schmackhaftigkeit schliessen, und obwohl sie sonst nichts Ausserordentliches vollführte, hätte Henlein ihr den ganzen Abend zusehen können. Und tat es auch, zumindest so lange, bis die Frau ihr Abendessen bezahlte und das Restaurant verliess. An der Tür drehte sie sich kurz um und blickte zu ihm hin, und da erschrak Henleins Blick so heftig, dass er sich schnell in den Wirrungen des Salates auf dem Teller versteckte.
Eigentlich hätte Henlein diese Begegnung in der Schublade mit der Aufschrift Seltsamschönes verstauen können. Und er hatte auch nichts anderes vor, aber seit diesem Abend sind die Gedanken da. Sie rauben ihm den Schlaf, lassen ihn die Bartrasur vergessen und treiben ihn zu gesteigertem Zigarettenkonsum. Doch er mag sie, diese Gedanken, auch wenn sie Dinge mit ihm treiben, die er nicht kennt und nicht für möglich gehalten hat.
Ich liege auf einer Wiese, deren Haare schon längere Zeit nicht mehr geschnitten wurden. Am Himmel zeigen sich vereinzelte Wattebauschwolken, die sich mühelos mit wilden Formen assoziieren lassen; ein Engel, ein kleines Kind, und da ist Fuchur aus der Unendlichen Geschichte. Jede Farbe um mich herum scheint seltsam rein zu sein. Der Himmel in seinem Azurblau, die Wiese in ihrem saftigen Grün, die nahen Bäume in einer dunkleren Tönung derselben Farbe. Die Luft ist frisch, aber nicht kalt, und da ist noch etwas, das frisch und warm ist. Zarte Finger berühren kaum merklich meine Gesichtshaut, und die winzig kleinen Härchen recken sich ihnen entgegen. Ich höre ein Lachen, doch es klingt nicht in meinen Ohren, sondern in mir drin, in einem Zimmer in meinem Herzen. Es ist Musik ohne Instrumente, Gesang ohne Worte. Zwar weiss ich, dass ich noch nie hier war, das hier ist ein neuer Ort. Und dennoch ist er mir vertraut, ich fühle mich wohl und geborgen. Mag sein, dass die Welt überall sonst in Lärm und Chaos versinkt und erstickt, aber hier ist sie gut.
Immer wieder erschrickt Henlein über die plastische Qualität seiner Gedanken. Für kurze Momente verschwindet er aus seiner Existenz und taucht in ein neues Leben, das diesen Namen auch wirklich verdient. Er nimmt Düfte wahr, Geräusche und sogar Berührungen, Dinge, denen er sich in der Realität gerne entzieht.
Wir stehen auf einem Felsen an der Küste des Meeres. Unter uns brüllt die Brandung und schlägt die unschuldigen Steine, und vielleicht sind es auch die Steine, die schreien. Ein Hund bellt hinter uns, und er ist das einzige Lebewesen auf dieser Welt, neben uns. Der Rest ist verschwunden, ist eingeschlafen oder gestorben, wir wissen es nicht, und es ist uns egal. Eine graublaue Wolkendecke hat sich über uns gelegt, und nur beinahe beim Horizont lässt sie ein wenig Licht durchscheinen. Ein goldenes Licht, wie ein geheimer Schatz. Zarte Finger berühren kaum merklich meine Gesichtshaut, und die winzig kleinen Härchen recken sich ihnen entgegen. Der Hund bellt wieder, und wir lachen beide, drehen uns zu ihm um. Erwartungsfroh steht er vor uns, schaut uns aus treuen braunen Augen an. Schon immer wäre ich lieber ein Tier gewesen, doch in diesem Moment bin ich froh, dass ich ein Mensch bin. Weil sie auch einer ist.
Leere Tage haben Henlein bisher nicht gestört, sie sind ihm nicht einmal aufgefallen oder er hat sie nicht als solche betrachtet. Ein Tag bestand bisher aus der Arbeit im Uhrenladen, einem Abendessen im Restaurant und einem Fernsehabend zur Realitätsflucht. Da war nichts, das ihm fehlte, er fühlte keine Sehnsucht nach Dingen, die er kannte, und keine Sehnsucht nach Dingen, die er nicht kannte. Doch nun, da er während der Arbeit, bei jedem Spaziergang und in höchst intimen Situationen Besuch von den Gedanken erhält, nun beginnt er, den süssen Schmerz des Vermissens in sich zu spüren. Auch wenn er nicht genau weiss, was er eigentlich vermisst.
Ich kann fliegen. Mir fehlen die Flügel eines Vogels, doch ich schwebe. Diese Leichtigkeit, sie macht mir Angst, doch gleichzeitig weiss ich sie zu geniessen. Ich lasse mich fallen und werde von unsichtbaren Kräften aufgefangen. Ich befinde mich im Blindflug über einer nächtlichen Landschaft, und ich bin nicht allein. Zarte Finger berühren kaum merklich meine Gesichtshaut, und die winzig kleinen Härchen recken sich ihnen entgegen. Neben mir fliegt ein Engel, in weissem Gewand, und ich frage ihn, ob diese kitschige Klischeekleidung eigentlich Vorschrift sei bei Engeln. Er lacht nur und zieht mich zu ihm hin.
Die schöne Frau speist nicht jeden Abend im selben Restaurant wie Henlein, er hat sie bisher nur noch weitere drei Mal dort gesehen. Wenn sie nicht da ist, fehlt sie. Er sieht dann zwar keinen Sinn mehr darin, seinen Blick wandern zu lassen, doch eine verborgene Hoffnung lässt es ihn dennoch tun. Und so bemerkt er allmählich, dass die politisierenden Senioren zwar nicht immer Recht haben, aber sich wenigstens interessieren und manchmal ziemlich sinnvoll argumentieren. Er stellt fest, dass die zwitschernden alten Damen sich offenbar seit Kindertagen kennen und meist amüsante Geschichten aus ihrer Jugendzeit erzählen, die ein halbes Jahrhundert zurückliegt. Und er bedauert die alten Männer, die unverständliche Worte auf die Tischplatte grummeln, weil er sich ziemlich sicher ist, dass diese Menschen früher ein Leben geführt haben, das so viel mehr beinhaltete, ein Leben, das ihnen jetzt fehlt. Doch auch wenn sich die Menschen im Restaurant allmählich zu erträglichen Zeitgenossen entwickeln, fehlt das wichtigste Wesen meistens. Und wenn sie da ist, spielt der Rest keine Rolle mehr.
Sie sind tiefer als jeder See, als jedes Meer. Ich tauche in sie ein, hinab in unendliche Weiten, in eine Welt, die nicht mit Worten, nicht mit Bildern beschrieben werden kann. Sie seien das Tor zur Seele, sagt man, und hinter diesem Tor verbergen sich Wunder, von deren Existenz ich nicht wusste, die ich niemals erahnt hätte. Ich schwimme vorbei an seltsamen Skulpturen, die jede für sich eine eigene Welt darstellen, vorbei an Bildern, die vor Wärme beinahe brennen, hin zu einem pulsierenden Etwas. Das Gebilde öffnet sich und nimmt mich in sich auf, und sofort fühle ich mich zu Hause. Alles, was ich sehe, habe ich zuvor noch nie erblickt, und dennoch ist es mir nicht fremd. Zarte Finger berühren kaum merklich meine Gesichtshaut, und die winzig kleinen Härchen recken sich ihnen entgegen. In mir brennt ein Licht, und es leuchtet mir den Weg durch die Welt.
Heute Abend hat er sie gesehen, im Restaurant, wie sie inmitten ihres eigenen Leuchtens ihre Mahlzeit ass, und so gerne wäre er zu ihr hingegangen, hätte sich an ihren Tisch gesetzt und sie einfach nur angeschaut. Er wäre kaum in der Lage gewesen, ein Gespräch zu beginnen, aber im Moment ist er mehr als zufrieden, wenn er sie einfach sehen kann. Henlein stellt sich vor, wie es wäre, in jenem Augenblick, in welchem er sich zu ihr setzt, einfach die Zeit anzuhalten. Die gesamte Welt würde erstarren, nur er wäre noch in der Lage, sich zu bewegen, was er aber nicht tun würde, da er einfach sie ansehen müsste. Henlein geht zum Bücherregal und zieht Die Geschichte der Zeitmessung und der Uhren hinaus. Er ist sicher, dass in einem Kapitel eine Fabel erzählt wird, in welcher die Zeit angehalten werden konnte. Alles, was dazu benötigt wird, ist eine originale Henlein-Taschenuhr. Und während er die Geschichte liest, beginnt in ihm die Frage zu keimen, ob sein Vorname wohl zum ersten Mal etwas Gutes für ihn tun könnte. Denn wie die ersten Taschenuhren gebaut wurden, weiss er seit seinen Lehrjahren in Grenchen. Und wenn er, Henlein, nun eine solche Taschenuhr bauen würde? Er kramt in seinen Schubladen, sucht nach Uhrfedern und Federbremsen. Schliesslich breitet er die Teile vor sich auf dem Tisch aus und beginnt, sie zusammenzusetzen.
Ich stehe ihr gegenüber. Sie sieht mich an, lächelt. Was bis zu diesem Zeitpunkt auch immer geschehen ist auf dieser Welt, nichts davon ist vergleichbar mit diesem Augenblick des Augenblickes. Keine Droge liesse mein Bewusstsein auf diese Weise entschwinden und dennoch greifbar machen. Keine Station meiner Vergangenheit hat mich das Leben so lebendig fühlen lassen wie dieser Moment. Zarte Finger berühren kaum merklich meine Gesichtshaut, und die winzig kleinen Härchen recken sich ihnen entgegen. Genau dieser Moment sollte ewig dauern. Genau jetzt sollte die Zeit aufhören, durch meine Welt zu fliessen. Genau jetzt.
Henlein sitzt im Restaurant. Sein Teller liegt vom Salat befreit vor ihm, er faltet die Serviette zusammen und will bereits enttäuscht aufbrechen, da erscheint sie doch noch in der Tür und setzt sich an ihren Platz. Henlein kann den Schweiss, der aus seinen Poren dringt, förmlich spüren und hören. Mit zitternden Fingern greift er in seine Tasche, holt die Uhr hervor, legt sie in seinen Schoss und deckt sie mit der Serviette zu, damit niemand sie sieht. Die Frau, die ihm die Gedanken schenkte, sie wartet auf ihr Abendessen, raucht eine Zigarette und lässt ihren Blick in die Tiefe des Raumes gleiten. Ein Lächeln umspielt ihre Lippen, und dann sieht sie plötzlich auf, zu Henlein hin. Er zuckt leicht zusammen, versucht das Lächeln zu erwidern und gleichzeitig seine Taschenuhr unter der Serviette zu ertasten.
Zarte Finger berühren kaum merklich meine Gesichtshaut, und die winzig kleinen Härchen recken sich ihnen entgegen. Die Zeit friert ein. Keine Sekunde tröpfelt in die Vergangenheit, kein Moment stirbt. Ich weiss nicht, wie sich der Zustand nennt, in dem ich mich befinde, doch ich will ihn nicht mehr verlassen. Nie mehr.
