Herr Klein liegt auf seinem Rücken, denn irgendwo muss er schliesslich liegen, und er spielt mit einem Gedanken, dem Gedanken nämlich, dass er der einzige Mensch im ganzen Universum ist, der auf seinem Rücken liegen kann. Niemand sonst ist dazu in der Lage oder berechtigt, freut er sich, niemand lag je auf dem Rücken, auf dem er nun liegt, und ganz bestimmt wird dies auch nie geschehen. Natürlich weiss er, dass dieser Gedanke ziemlich lächerlich, vielleicht sogar lachhaft ist. Doch Herr Klein lacht nicht. Nicht einmal ein Lächeln streift sein Gesicht. Er liegt einfach auf seinem Rücken.
Ausser einer alten Unterhose und einer schwarzen Socke am rechten Fuss trägt er keine Kleidung. Das mag seltsam anmuten, denkt er sich, doch hier, in diesem Wald, sieht ihn ja niemand, und sollte eine orientierungslose Spaziergängerin zufällig vorüberirren, wäre es ihm egal, was diese über ihn denken würde. Herr Klein würde ihr empfehlen, überhaupt nicht über ihn zu denken.
Eine Ameisenkolonie krabbelt über ihn hinweg. Die kleine Tiere sind mit Umzugsarbeiten beschäftigt, sie verschieben ihren Hügel an einen anderen Ort im Wald, weil die Ameisenkönigin sich seit einiger Zeit mit den Feng-Shui-Regeln beschäftigt und nun davon besessen ist, die Wohnräume zu harmonisieren. Herr Klein hält nicht viel von chinesischen Theorien, doch er stört sich nicht an den Ameisen. Ihr Weg führt über seinen Bauch, und womöglich würde er anders denken, wenn sie seinen Intimbereich passieren würden. Doch eigentlich wäre ihm wohl auch das relativ egal.
Nun taucht natürlich allmählich die Frage auf, warum Herr Klein spärlich bekleidet auf einem Ameisenpfad im Wald liegt. Er selbst müsste die Antwort kennen, dennoch stellt er sich diese Frage auch immer wieder. Immerhin weiss er, dass das Liegen im Wald lediglich das Symptom ist. Die Ursache liegt in seinen Erinnerungen, in die er sich ein weiteres Mal flüchtet.
Seine Eltern liessen unglücklicherweise jegliche Phantasie und auch ein Mindestmass an entsprechendem Engagement vermissen, weshalb sie darauf verzichteten, ihrem einzigen Sohn einen Vornamen zu geben. Auf den kleinen Kärtchen, die an den vereinzelten Weihnachtsgeschenken befestigt waren, auf der Rückseite der Kinderzeichnungen oder auf den Etiketten der Schulhefte sah die Aufschrift Herr Klein ziemlich seltsam aus. Dennoch war seine Kindheit glücklich, geprägt von einem Umfeld mit einigen Quasi-Freunden und vor allem von Eltern, die ihm zwar keinen Vornamen, aber grenzenlose Liebe zuteil kommen liessen. Sie hatten in einem pädagogisch wertvollen Monatsmagazin gelesen, dass Einzelkinder überdurchschnittlich verwöhnt seien, und dachten, das müsse so sein. Und sie scheuten keinen Aufwand, um ihren Sohn die ehrlich empfundene Zuneigung in jeder erdenklichen Form spüren zu lassen. Es verwundert nicht, dass Herr Klein diese Aufmerksamkeit sehr genoss, und sich mit der Zeit beträchtliche Fähigkeiten und Verhaltensweisen aneignete, um stets zu bekommen, was er sich wünschte, und manchmal wünschte er sich Dinge, die er eigentlich gar nicht wollte, nur um zu sehen, dass er sie haben könnte. Oft befürchtete er, seine Forderungen auf die Spitze zu treiben, rechnete stets damit, dass sie von seinen Eltern irgendwann ausgeschlagen werden könnten. Doch dies geschah nie. Sie erfüllten ihm jeden Wunsch und brachten sich an den Rand des Ruins. Herr Klein hatte bisweilen ein schlechtes Gewissen, aber dann wünschte er sich einfach ein neues Spielzeug, um sich davon abzulenken.
Derart gemütlich und bequem in den elterlichen Schoss gebettet fühlte sich Herr Klein nicht genötigt, nach einem gewissen Mass an Selbständigkeit zu streben oder gar in eine eigene Wohnung zu ziehen. Auch fand er eine Ausbildung oder eine berufliche Tätigkeit nicht notwendig, schliesslich zahlten ihm schon seine Eltern einen stattlichen Lohn für seine Eigenschaft, ihr Sohn zu sein. Um die Zukunft sorgte sich Herr Klein nicht, denn in seiner Zukunft waren Vater und Mutter stets fest eingeplant.
Doch die Weltgeschichte ist voll mit Plänen, die zunichte gemacht wurden, und so auch die Geschichte von Herrn Klein. Er war siebenundzwanzig Jahre alt, als seine Eltern an einem sonnigen Sommertag eine Bank betraten, um Geld für ihren Sohn abzuheben. Kurz darauf kam ein verwirrter junger Mann durch die Tür, zückte eine Spielzeugpistole und krächzte heiser, dass dies ein Banküberfall sei, Hände hoch, alles Geld in diese Tüte, danke. Die Kunden taten wie geheissen, nur eine alte Frau, die trotz wolkenlosem Himmel einen Schirm mit sich trug, marschierte auf den jungen Mann los und schlug mit eben diesem Schirm auf ihn ein. Dabei wirbelte sie ihn so wild durch die Luft, dass sich der Griff löste und der Schirm durch den Raum geschleudert wurde. Als das kalte Metall der Schirmspitze zuerst den Hals seiner Mutter und gleich darauf jenen seines Vaters durchbohrte, sass Herr Klein zu Hause im Garten, trank ein kaltes Bier. Ihm war, als hätte ihn eine Wespe in den Hals gestochen, doch er schien es sich nur eingebildet zu haben, denn da war kein Stachel in der Haut.
Seine Eltern hatten ihm nie gezeigt, wie man weint, und er lernte es auch nicht mehr. Immerhin konnte er sein Gefühl, das ihn auszuhöhlen schien, als Traurigkeit deuten, auch wenn er nicht wusste, was er damit anfangen sollte. Überhaupt war er ziemlich ratlos. Zwar vermisste er seine Eltern nicht wirklich, doch die Herausforderung, ein neues Leben – ohne sie – zu beginnen, traf ihn völlig unvorbereitet. Solange noch genügend Geld aus der Erbschaft vorhanden war, kam er relativ gut mit der neuen Situation klar. Doch dann war das Konto leer und Herr Klein an jenem Punkt angelangt, an dem einige Menschen in traurigen Filmen die Abgase mit einem Schlauch vom Auspuff in den Innenraum leiten und sich in ihren Wagen setzen. Herr Klein fand aber keinen Schlauch, der passte.
Die Ameisen lassen sich nicht lange verwirren, als sich Herr Klein kurz aufrichtet, um sich ein wenig im Wald umzusehen. Der Tag wandert allmählich dem Abend entgegen, die Helligkeit des blauen Himmels verliert an Kraft und geht langsam in ein schwaches hellrotes Leuchten über. Es duftet im Wald, denkt Herr Klein, und er denkt dies zum ersten Mal. Das Zwitschern von Vögeln dringt an sein Ohr, und schenkte er solchen Ereignissen in der Vergangenheit keine Beachtung, so ist er nun zumindest ein wenig verzaubert, doch schon diese kleine Verzauberung lässt ihn sich fragen, weshalb er plötzlich von solchen Gemütsregungen geplagt wird. „Das ist nun wirklich nicht der richtige Zeitpunkt“, ruft er in das Gewirr aus Bäumen und Gebüsch, und die zwitschernden Vögel fliegen schockiert auf und zwitschern noch lauter.
Herr Klein legt sich wieder auf seinen Rücken, denn irgendwo muss er schliesslich liegen, und erneut spielt er mit einem Gedanken, dem gleichen lächerlichen oder lachhaften Gedanken wie zuvor, doch diesmal freut er sich nicht über die Tatsache, dass er der einzige Mensch im ganzen Universum ist, der auf seinem Rücken liegen kann, sondern fragt sich, ob diese Tatsache nicht auch daran liegen könnte, dass man, um auf seinem Rücken liegen zu können, sich im Prinzip in seinem, also Herrn Kleins Körper befinden müsste, in seinem Innern, wo aber niemand zu finden ist. Er schaut noch einmal in sich hinein, doch tatsächlich kann er kein Gesicht erkennen, nicht einmal Schemen oder Schatten. Vergeblich versucht er, sich seine Eltern vorzustellen, wie sie aussahen, wie sie sich bewegten. Und er wundert sich, dass er nicht früher bemerkt hat, wie allein er in seinem Innern ist. Oder vielleicht hat er es bemerkt, nur war es ihm egal. Er weiss es nicht. Was er hingegen weiss ist, dass auch diese Gedanken ziemlich lächerlich, vielleicht sogar lachhaft sind. Doch Herr Klein lacht nicht. Nicht einmal ein Lächeln streift sein Gesicht. Er liegt einfach auf seinem Rücken.
Er hatte sich am Abend des vergangenen Tages in diese Position gefügt und geplant, dieses Liegen auf seinem Rücken bis an sein Lebensende zu praktizieren, dieses Lebensende war ja der Sinn der Sache, und mit einigen Tagen Wartezeit war zu rechnen. Doch nun sind erst etwa 24 Stunden vergangen, und Herr Klein schüttelt sich eine Hundertschaft Ameisen vom Bauch und steht auf. Nur kurz, denkt er sich, nur ein wenig durch den Wald gehen, das ändert ja nichts. Und er marschiert los, noch immer nur mit seiner schäbigen Unterhose und der schwarzen Socke am rechten Fuss bekleidet. Er friert wieder, wie schon in der Nacht, und er kann kaum gehen, weil seine Glieder starr und klamm sind. Doch mit jedem Schritt freut sich sein Körper mehr über die unerwartete Bewegung und kehrt langsam in einen einigermassen erträglichen Betriebszustand zurück.
Vor ihm steigt das Gelände relativ steil an, der Untergrund wird steinig und karger, das Gebüsch flacher. Er geht einen kleinen Weg entlang, den Blick stets hinauf gerichtet, dorthin, wo er das Ende des Weges vermutet und wo ein rätselhaftes Leuchten seine Neugierde geweckt hat. Durch das dunkelgrüne Laub und das Tannennadelgewirr der Bäume hindurch sieht es aus wie goldene Lichter, wie königliche Glühwürmer, wie das Glanzpapier seiner Lieblingsschokolade aus Kindertagen. Herr Klein beschleunigt seinen Schritt, angezogen vom Unbekannten.
Die Bäume werden vereinzelter, nur hin und wieder steht einer inmitten des dunkelgrünen Unterholzes, wie einsame Wächter der seltsamen Schönheit, die sich vor ihm offenbart, seinen Atem raubt und sein Herz laut werden lässt, was ihn überrascht, denn sein Herz ist noch nie laut geworden. Der Weg wird allmählich breiter und verwandelt sich schliesslich in eine grosse felsige Weite mit einer Oberfläche, die ihn an die rissige Haut einer greisen Frau erinnert. Etwa fünfzig Meter von ihm entfernt scheint der Boden plötzlich aufzuhören, und als er sich der Stelle nähert, bemerkt er, dass der Fels dort lediglich steil abfällt und die Welt dahinter durchaus noch weitergeht. Und er ist beinahe erschlagen von der Form, wie sie dies tut. Am Fuss der Steinwand liegt ein kleiner See schwarz und still im Abendlicht, umgeben von dichtem Wald und so fremd und unerwartet, so wunderschön und faszinierend, dass Herr Klein in seinem durchschnittlich grossen Wortschatz vergeblich nach einer Bezeichnung sucht, die das Bild auch nur annähernd zu beschreiben vermag. Er setzt sich auf den Boden, den Rücken an einen Baum gelehnt. Und schaut zu. Schaut zu, wie überhaupt nichts passiert und nichts sich bewegt. Am Ende der Welt, weit hinter dem mächtigen Wald, der den See umschliesst, versinkt eine rote Sonne und hinterlässt ein diffuses Dämmerlicht, ohne jedoch die Schönheit zu rauben. Die Haare auf seinen Armen richten sich auf, doch er friert nicht mehr. Ihm war noch nie so warm.
Herr Klein sitzt auf dem Boden, den Rücken an einen Baum gelehnt, denn irgendwo muss er ihn ja anlehnen, und liegen will er nicht mehr. Er schliesst die Augen, taucht ein in seinen Kopf, schwebt durch seine Gedanken, und plötzlich zuckt er zusammen. Als sie noch am Leben war, hatte Herr Klein nie erkannt, wie traurig und gleichzeitig friedlich die Augen seiner Mutter aus dunkel umrahmten Höhlen schauten. Und er hatte nie die Falten auf der Stirn seines Vaters bemerkt, die sich nur glätteten, wenn er lachte. Nun sieht er die beiden vor sich, in sich, um sich herum, und er spürt, wie seine Mutter ihre knochigen Hände über sein Haar gleiten lässt. Herr Klein flüstert in die hereinbrechende Nacht. Er erzählt seinen Eltern vom Leben, das er nicht mehr leben wollte, weil er in seinem Leben noch nie wirklich gelebt hatte, von der Leere in seinem Innern, und als ihn sein Vater fragt, warum er nur eine alte Unterhose und eine schwarze Socke am rechten Fuss trage, greift sich Herr Klein erschrocken an den Rand seines Auges, der plötzlich feucht geworden ist.
Am nächsten Morgen, kurz nach Sonnenaufgang, geht Herr Klein wieder den kleinen Weg entlang und den steilen Abhang hinab. In seinem Kopf hört er noch die Stimmen seiner Eltern, wie sie ihm von der Wirkung eines guten Buches erzählen, von der Magie eines Regenspaziergangs, von der Wärme, die Musik erzeugen kann, vom Sinn des Träumens und von den Reisen, die er noch vor sich hat. Und Herr Klein weiss, welche Reise er bestimmt nicht mehr machen wird: jene an die Stelle im Wald, an der er auf seinem Rücken lag. Überhaupt mag er nicht mehr auf seinem Rücken liegen.
Unten im Wald sind die Ameisen froh, dass sie nicht mehr über ein kaum bekleidetes Hindernis krabbeln müssen, und verrichten ungleich motivierter ihre mühselige Arbeit. Die Ameisenkönigin beteiligt sich natürlich nicht am Umzug des Hügels, schliesslich ist sie Monarchin und entsprechend privilegiert. Sie hat soeben den Telefonhörer wieder auf die Gabel gelegt, nachdem sie mit dem offiziellen Vertreter der Glühwürmer gesprochen und sich bei ihm für den ausserordentlichen Einsatz bedankt hatte. Sie habe das Leuchten bis in ihren Speisesaal sehen können.

Ich mag Herrn Klein sehr und hätte ich ihn kennengelernt, auf eine Hühnersuppe eingeladen, und vielleicht… aber wer weiß das schon. Und es braucht dringend mehr Geschichten, in denen Ameisen vorkommen. Unbedingt!
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Nun, ich weiss nicht, wie gross der Bedarf an Ameisengeschichten ist, aber vielen Dank, dass du diese hier gelesen hast…
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