Immer, wenn sie denkt, dass immer was ist, fragt sie sich, warum immer was ist und ob es nicht möglich wäre, dass für einmal nichts ist.
Immer ist was.
Immer, wenn sie sich hinsetzen möchte, fällt ihr etwas ein, das zu tun wäre oder das sie erledigen müsste, und meistens tut sie es und erledigt es, doch hin und wieder setzt sie sich tatsächlich hin, bleibt dann aber unruhig und rastlos, weil sie weiß, dass noch immer etwas zu tun wäre und dass sie noch immer etwas erledigen müsste, und dann steht sie wieder auf und ballt die Hände zu Fäusten.
Immer ist was.
Immer, wenn ihr Telefon klingelt und sie die Nummer auf dem Display nicht kennt, ist da die Möglichkeit, dass ihr die Person am anderen Ende der Leitung eine Nachricht überbringt, die ihr Leben zum Guten verändert, doch wenn sie dann abnimmt, ist es jemand, der ihr ein Zeitschriftenabonnement verkaufen oder sie zu einem Versicherungswechsel überreden will.
Immer ist was.
Immer, wenn in den melodramatischen Filmen die Geigen aufwallen und stetig vielstimmiger werden, dringen ihr die Tränen in die Augen und sie ist erschüttert ob den Geschichten von vollkommen fremden, holzschnittartig gezeichneten Figuren, viel mehr, als sie ihre eigene Geschichte verdrießen könnte.
Immer ist was.
Immer, wenn sie den Nachbarn beobachtet, wie er mit nacktem Oberkörper seinen Rasen mäht, stellt sie sich vor, wie es wäre, ihren nackten Oberkörper an seinen nackten Oberkörper zu schmiegen, fragt sich, wie sich seine Haut auf ihrer Haut anfühlen und wonach er riechen würde, der Nachbar, den sie kaum attraktiv findet und auch nicht sonderlich mag, er ist auch ein wenig zu alt, doch er ist da, und in gewissen Momenten braucht es nicht mehr.
Immer ist was.
Immer, wenn sie findet, dass es höchste Zeit für Veränderung ist, für das Neue und Ungewohnte, für das Überraschende und Unbekannte, schaut sie auf die Uhr und weiß, dass es gleich spät ist wie am Tag zuvor um diese Uhrzeit.
Immer ist was.
Immer, wenn sie im Auto sitzt und vor ihr jemand sehr langsam fährt, flucht sie, brüllt Trottelwörter und Arschlochwörter, die außer ihr selbst niemand hören kann, sie krallt ihre Finger ins Lenkrad und presst die Zähne aufeinander und knurrt wie ein Tier, das unnötig gereizt und provoziert wird, und sobald der Fahrer vor ihr abgebogen ist, gibt sie Gas und lässt den Motor aufheulen, als müsste sie ein Zeichen setzen und ihren Unmut in lautstarke Bewegung überführen, doch kurz darauf muss sie wieder abbremsen, weil wieder jemand vor ihr fährt oder eine enge Kurve kommt oder sie keine Busse riskieren will.
Immer ist was.
Immer, wenn sie andere Menschen betrachtet, denkt sie, dass sie froh ist, kein anderer Mensch zu sein, und dann fällt ihr ein, wie oft sie gern ein anderer Mensch wäre.
Immer ist was.
Immer, wenn ihr die Sonne ins Gesicht scheint, mag sie es, die Wärme auf der Haut zu spüren, fühlt sich aber immer stärker geblendet, weil ihr die Sonne ins Gesicht scheint.
Immer ist was.
Immer, wenn sie ihr Spiegelbild mustert, sagt sie zu sich, dass sie gut sei, dass sie zufrieden sein könne, dass sie sich glücklich schätzen dürfe, doch jedes Mal hört sie alsbald eine Stimme, die ihr widerspricht und in klaren, giftigen Worten erklärt, dass sie die Realität verkenne und dass es unzählige Gründe gebe, ihr Spiegelbild zu kritisieren, was sie dann auch tut, weil sie der Stimme wahrscheinlich mehr Glauben schenkt als ihren Augen.
Immer ist was.
Immer, wenn sie sich im Wasser befindet, im weiten Meer oder in einem kleinen Schwimmbecken, taucht sie ihren Kopf zur Hälfte ein, bis sich ihre Augen nur noch knapp über der Oberfläche befinden, und schaut geradeaus, über die Grenze zwischen dem Dasein und dem Untergang, sie atmet tief ein und taucht dann ab, lässt sich hinabsinken, und während das Wasser um sie herum die ganze Welt still macht, überlegt sie, wie es wäre, nicht mehr aufzutauchen.
Immer ist was.
Immer, wenn sie am Morgen erwacht und denkt, dass sie am Abend zuvor wieder einmal zu viel Wein getrunken hat, nimmt sie sich vor, am nächsten Abend weniger Wein zu trinken, nur um dann am Morgen darauf wieder zu erwachen und zu denken, dass sie am Abend zuvor wieder einmal zu viel Wein getrunken hat.
Immer ist was.
Und wenn dann nichts mehr ist, weiß sie nicht, was sie tun soll und wer sie überhaupt ist, und hofft, dass bald wieder was ist.

Wenn ich mal den Nachbar ausklammere, könnte ich ja glatt sie sein.
Danke für diesen Handspiegel
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Der Nachbar ist auch fakultativ 😉
Vielen Dank fürs Lesen!
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Ohne dass was wäre, wäre es auch nichts. Das war mal, heute ist gut, wenn mal nichts ist.
Danke & Grüße, Reiner 👋
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Vielen lieben Dank dir fürs Lesen. Und herzliche Grüße zurück…
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Ja immer ist was und manchmal gibt es interessantes zu lesen 👍
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Dein Lesen freut mich sehr. Vielen Dank!
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Ist immer so. 😁😉
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Jaha… Vielen Dank dir fürs Lesen!
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