Wenn sie allein ist, ist sie nicht allein, und weil sie nicht allein ist, wenn sie allein ist, ist sie nie allein. Sie hat einen Freund, den nur sie sehen kann. Sie weiß, dass niemand sonst diesen Freund sehen kann, und sie weiß, dass dieser Freund niemanden sonst sehen kann, nur sie. Es ist ein gutes Gefühl, das zu wissen. Es macht ihren Freund bedeutsam. Es macht sie selbst bedeutsam. Sie kann sich darauf verlassen, dass der Freund immer da ist, und diese Verlässlichkeit ist unerlässlich, ist wichtig. Obwohl sie sich nicht an ihrem Freund festhalten kann, kann sie sich an ihrem Freund festhalten. Manchmal fragt sie sich, ob sie umfallen würde, wenn ihr Freund nicht da wäre. Doch eigentlich will sie nicht herausfinden, was geschehen würde, wenn ihr Freund nicht da wäre.
Sie weiß, dass sie niemandem von ihrem Freund erzählen darf, denn wenn jemand von ihm erfahren würde, könnte er nicht mehr bedingungslos und uneingeschränkt für sie da sein. Doch eines Tages trinkt sie mit einer Arbeitskollegin Wein, sehr viel Wein, vor allem für ihre Verhältnisse, denn in ihren Verhältnissen trinkt sie kaum Alkohol. Rasch wird sie von der Trunkenheit übermannt, ihre Zunge wird locker. Sie weiß gar nicht mehr, weshalb sie es sagt, doch irgendwann erwähnt sie den Freund, den nur sie sehen kann, beschreibt den Wert, den der Freund für sie hat. Ihre Arbeitskollegin glaubt ihr wohl nicht oder hält es für einen Witz, jedenfalls erwidert sie nichts darauf und schaut lediglich verwirrt aus ihren kleinen Augen. Bald schon reden sie über etwas anderes, ganz normal, als wäre der Freund, den nur sie sehen kann, gar nie zur Sprache gekommen.
Eigentlich könnte sie diesen Zwischenfall einfach ruhen lassen. Eigentlich könnte sie das Ganze einfach vergessen. Eigentlich könnte sie darauf vertrauen, dass die Arbeitskollegin in ihrer Trunkenheit gar nichts mitbekommen hat. Eigentlich könnte es ihr sogar egal sein. Doch eigentlich und könnte sind die falschen Wörter, wenn man Angst hat. Und sie hat Angst, die Angst hockt als dicker Brocken in ihrem Hals, und dann, am Abend des nächsten Tages, tobt die Angst mit scharfen Krallen in ihrer Brust. Sie ist allein unterwegs, und obschon sie ansonsten nicht allein ist, wenn sie allein ist, fühlt sie sich nun plötzlich so, fühlt sich allein, ganz allein. Den Freund, den nur sie sehen kann, kann sie nicht mehr sehen. Er ist verschwunden, und sein Fehlen raubt ihr den Atem. Sie gerät ins Taumeln, der Blick trübt sich, Konturen verschwimmen, alles wankt und sie muss sich setzen.
Das kann nicht sein, flüstert sie. Das kann nicht sein. Das kann nicht sein. Wie ein Mantra zischt sie die Worte in die warme Abendluft. Sie schließt die Augen und stellt sich vor, wie die Welt aussehen würde ohne den Freund, stellt sich vor, wie sie allein in ihrer Wohnung sitzt, wie sie allein durch dunkle Gassen geht, wie sie allein an einer Bushaltestelle steht, wie sie allein Lebensmittel einkauft, wie sie allein in einen Spiegel schaut und niemanden sehen kann. Ein jäher Schmerz dringt in ihr Bein, und erst, nachdem sie ihre Augen aufgerissen hat, stellt sie fest, dass sie selbst die Ursache des Schmerzes ist, denn ihre Finger sind in das Fleisch ihres Beines gegraben. Sie lässt los und beobachtet, wie die Haut an ihrem Bein verschiedene Stadien der Verfärbung durchläuft, bis sie wieder so aussieht wie gewohnt. Dann blickt sie hoch und sieht ihn.
Wenn sie allein ist, ist sie nicht allein, und weil sie nicht allein ist, wenn sie allein ist, ist sie nie allein. Sie hat einen Freund, den nur sie sehen kann. Sie weiß, dass niemand sonst diesen Freund sehen kann, und sie weiß, dass dieser Freund niemanden sonst sehen kann, nur sie. Es ist ein gutes Gefühl, das zu wissen. Und es ist ein gutes Gefühl, zu wissen, dass er auch da ist, wenn sie ihn nicht sehen kann. Dass er ein Teil von ihr ist und bleibt. Vielleicht geht es gar nicht so sehr darum, sich an ihrem Freund festhalten zu können, sondern darum, sich an ihrem Ich festhalten zu können. Als sie wieder zu ihrem Freund schaut, macht er Faxen. Er tanzt, formt seine Hände zu einem Geweih, dreht sich im Kreis. Irgendwann fällt er hin. Dann steht er wieder auf.

Danke, lieber Ralf,
für diese wundervolle Geschichte.
In diesen Zeiten ist es sehr gut, wenn man nicht alleine ist, aber sehr viel besser, alleine zu sein, als wenn man sich mit den Menschen, mit denen man lieber nicht zusammen leben möchte, zusammenleben muss. Gibt es ja auch.
Wie gut, wenn man dann über einen Deiner wundervollen Texte die Idee zu einem Freund an die Seite gestellt bekommt.
Liebe Grüße
von Ryka
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Oh ja, liebe Ryka, gerade im Moment und überhaupt immer gibt es Menschen, die mit Menschen unter einem Dach leben, die ihnen alles andere als gut tun. Es wäre eigentlich besser, wenn sie allein sein könnten. Wäre. Eigentlich…
Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte, und herzliche Grüsse zurück!
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Manchmal sind diese Freunde verlässlicher als alles, was sich sonst so Freund nennt. Tolle Geschichte.
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Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und Kommentieren! Herzliche Grüsse…
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….das kommt mir jetzt grad nah…
Eine ziemlich tolle Geschichte.
Chapeau und
Sei herzlich gegrüßt,
Amélie
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Das freut mich sehr…
Ein ziemlich toller Kommentar.
Vielen lieben Dank dir
und herzliche Grüsse zurück!
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